Der Untergang des Abendlandes
Art das Seitenstück bildet –, welche mit der Baugeschichte der Dome zusammenhängt, der Scholastik und Mystik nahesteht und in der Mutterlandschaft der hohen Gotik zwischen Seine und Schelde ihre Gesetze findet. Der Kontrapunkt entwickelt sich gleichzeitig mit dem Strebesystem, und zwar aus dem »romanischen« Stil des Discantus und Fauxbourdon mit ihrer einfachen Parallel- und Gegenbewegung. Er ist eine Architektur der Menschenstimmen und wie die Statuengruppen und Glasmalereien nur im Gefüge dieser steinernen Wölbungen denkbar, eine hohe Kunst des Raumes, desselben, den Nicolas von Oresme, Bischof von Lisieux, [1323-1382, Zeitgenosse des Machault und Philipp de Vitry, in deren Generation die Regeln und Verbote des strengen Kontrapunkts endgültig festgelegt wurden.] durch Einführung der Koordinaten mathematisch erfaßte. Das ist die eigentliche
rinascita
und
reformatio,
wie sie um 1200 Joachim von Floris erschaute, [Vgl. Bd. I, S. 26 f., Bd. II, S. 916.] die Geburt einer neuen Seele, gespiegelt in der Formensprache einer neuen Kunst.
Daneben entsteht in Burgen und Dörfern eine weltliche,
imitative
Musik der Troubadours, Minnesänger und Spielleute, die als Ars nova von den provenzalischen Höfen in die Paläste toskanischer Patrizier eindringt – um 1300, der Zeit Dantes und Petrarcas –, es sind einfach begleitete Melodien, die mit ihrem Dur und Moll zu Herzen gehen, Kanzonen, Madrigale, Caccias; auch eine Art galanter Operette ist darunter, das »Spiel von Robin und Marion« des Adam de la Hâle. Nach 1400 entstehen daraus mehrstimmige Satzformen, Rondo und Ballade. Es ist »Kunst« für ein Publikum. Man malt Szenen des Lebens nach, Liebe, Jagd und Heldentum. Es kommt auf die melodische Erfindung an, nicht auf die Symbolik der Linienführung.
So unterscheiden sich auch musikalisch Burg und Dom. Der Dom
ist
Musik, in der Burg
macht
man Musik. Jene beginnt mit der Theorie, diese mit der Improvisation: so unterscheiden sich Wachsein und Dasein, der geistliche und der ritterliche Sänger. Die Imitation steht dem Leben und der Richtung näher und beginnt deshalb mit der Melodie. Die Symbolik des Kontrapunkts gehört zur Ausdehnung und deutet den unendlichen Raum durch Polyphonie. Ein Schatz »ewiger« Regeln und ein Schatz unverwüstlicher Volksmelodien sind das Ergebnis, von dem noch das 18. Jahrhundert zehrt. Dieser Gegensatz offenbart sich künstlerisch auch in dem
Standes
gegensatz von Renaissance und Reformation. [Vgl. Bd. II, S. 924.] Der höfische Geschmack von Florenz widerspricht dem Geiste des Kontrapunkts. Die Entwicklung des strengen Tonsatzes von der Motette zur vierstimmigen Messe durch Dunstaple, Binchois und Dufay (um 1430) bleibt an den Bannkreis der gotischen Architektur gebunden. Von Fra Angelico bis Michelangelo beherrschen die großen Niederländer die ornamentale Musik allein. Lorenzo de' Medici mußte Dufay an den Dom berufen, weil in Florenz sich niemand auf den strengen Stil verstand. Und während hier Lionardo und Raffael malten, erhoben im Norden Ockeghem († 1495) und seine Schule und Josquin Desprez († 1521) die menschenstimmige Polyphonie auf den Gipfel ihrer formalen Vollendung.
Die Wendung zur Spätzeit kündigt sich in Rom und Venedig an. Mit dem Barock geht die Führung der Musik an Italien über, aber zugleich hört die Architektur auf, die maßgebende Kunst zu sein; es bildet sich eine Gruppe faustischer Sonderkünste, in deren Mitte die Ölmalerei steht. Um 1560 geht mit dem A-cappella-Stil Palestrinas und Orlando di Lassos (beide † 1594) die Herrschaft der menschlichen Stimme zu Ende. Ihr gebundener Klang vermag den leidenschaftlichen Drang zum Unendlichen nicht mehr auszudrücken und weicht dem Klang der Chöre von Streich- und Blasinstrumenten. Zugleich entsteht in Venedig der Tizianstil des neuen Madrigals, dessen melodisches Fluten den Sinn des Textes nachmalt. Die Musik der Gotik war architektonisch und vokal, die des Barock ist malerisch und instrumental. Die eine konstruiert, die andre arbeitet motivisch; darin liegt zugleich der Schritt von der überpersönlichen Form zum persönlichen Ausdruck der großen Meister. Denn alle Künste sind städtisch und also weltlicher geworden. Die kurz vor 1600 in Italien entstandene Methode des Generalbasses rechnet mit Virtuosen, nicht mit Asketen.
Die große Aufgabe war nunmehr die Dehnung des Tonkörpers ins Unendliche, seine Auflösung vielmehr in einen unendlichen Raum von Tönen. Die Gotik hatte die Instrumente
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