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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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ist auf falschem Wege, wenn man vom naturalistisch-imitativen Standpunkt aus ihre »Steifheit« kritisiert.
    Ebenso ist die Musik nur ein Wort. Es gab immer und überall »Musik«, auch
vor
aller eigentlichen Kultur, auch unter Tieren. Aber die antike Musik höheren Stils war nichts als eine
Plastik fürs
Ohr. Die Viertongruppen, die Chromatik und Enharmonik [Nach alexandrinischem Sprachgebrauch. Für uns bedeuten die Worte etwas ganz anderes.] haben tektonische, nicht harmonische Bedeutung: das aber ist der Unterschied von Körper und Raum. Diese Musik ist einstimmig. Die wenigen Instrumente werden auf die Plastik des Tones hin entwickelt und die ägyptische Harfe – in ihrer Klangfarbe vielleicht dem Cembalo nicht unähnlich – eben deshalb abgelehnt. Vor allem aber wird die Melodie – wie der antike Vers von Homer an bis in die Zeit Hadrians – quantitativ, nicht nach dem Akzent behandelt, das heißt: die Silben sind Körper, und deren Umfang entscheidet über den Rhythmus. Die sinnlichen Reize dieser Kunst sind uns unverständlich, wie die geringen Reste lehren, aber das sollte uns auch über den erstrebten und erzielten Eindruck von Statuen und Fresken nachdenklich stimmen, denn wir erleben hier nie den Reiz, den sie auf ein antikes Auge ausübten.
    Ebenso unverständlich ist uns die chinesische Musik, in der wir nach dem Urteil gebildeter Chinesen heitre und traurige Stellen nicht zu unterscheiden vermögen, [Ebenso empfinden wir die gesamte russische Musik als unendlich traurig, was sie nach der Versicherung echter Russen für sie selbst durchaus nicht ist.] und umgekehrt empfindet der Chinese die abendländische Musik
ohne Unterschied als Marsch
, was den Eindruck der rhythmischen Dynamik unseres Lebens auf das rhythmisch unbetonte Tao der chinesischen Seele treffend wiedergibt. Aber so empfindet der Fremde unsre ganze Kultur überhaupt, die Richtungsenergie der Kirchenschiffe und der Geschoßgliederung aller Fassaden, die Tiefenperspektive der Gemälde, den Gang der Tragödie und Erzählung, aber auch der Technik und des gesamten privaten und öffentlichen Lebens. Wir haben diesen Takt im Blute und merken ihn deshalb gar nicht. Mit dem Rhythmus eines fremden Lebens zusammenklingend wirkt er als unerträgliche Disharmonie.
    Eine ganz andre Welt ist die der arabischen Musik. Wir haben bis jetzt nur die der Pseudomorphose betrachtet: byzantinische Hymnen und jüdisches Psalmodieren, und auch diese nur, soweit sie als Antiphone, Responsorien und als ambrosianischer Gesang in die Kirche des fernen Westens gedrungen sind. Aber es versteht sich von selbst, daß nicht nur die Religionen westlich von Edessa: die synkretistischen Kulte, vor allem die syrische Sonnenreligion, die Gnostiker und Mandäer, sondern auch die östlichen: die Mazdaisten, Manichäer, Mithrasgemeinden, die Synagogen des Irak und später die Nestorianer eine heilige Musik gleichen Stils besaßen, daß sich daneben eine heitre, weltliche Musik vor allem des südarabischen und sassanidischen Rittertums [Vgl. Bd. II, S. 795 f.] entwickelt hat, und daß beide im maurischen Stil von Spanien bis nach Persien hin ihre Vollendung fanden.
    Von diesem Reichtum hat die faustische Seele nur einige Formen der Westkirche entlehnt, aber sogleich, noch im 10. Jahrhundert – Hucbald, Guido von Arezzo – von innen heraus als »Marsch« und Sinnbild des unendlichen Raumes umgedeutet. Das erste geschah durch Takt und Tempo der Melodik, das zweite durch die Polyphonie (und gleichzeitig in der Dichtung durch den Reim). Um das zu verstehen, muß man eine imitative [Das »Imitieren« in der Barockmusik bedeutet etwas ganz anderes, nämlich das Nachmalen eines Motivs in andrer Färbung (Tonstufe).] und ornamentale Seite der Musik unterscheiden, und wenn wir infolge des flüchtigen Daseins aller Tonschöpfungen [Denn die allein übrigbleibenden Noten sprechen nur zu dem, welcher Ton und Behandlung der zugehörigen Ausdrucksmittel noch kennt und beherrscht.] auch nur die musikalische Kultur des Abendlandes kennen, so genügt das vollkommen, um uns die Zweiseitigkeit der Entwicklung zu offenbaren, ohne die man Kunstgeschichte überhaupt nicht versteht. Jene ist Seele, Landschaft, Gefühl, diese ist strenge Form, Stil, Schule. Jene erscheint in dem, woran man die Musik einzelner Menschen, Völker und Rassen unterscheidet, diese in den Regeln des Satzes. Es gibt in Westeuropa eine
ornamentale Musik großen Stils
– diese ist es, zu welcher die antike Plastik strenger

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