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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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zu Familien von bestimmter Klangfarbe entwickelt; jetzt entsteht das »Orchester«, das nicht mehr den Bedingungen der Menschenstimme gehorcht, sondern sie den übrigen Stimmen einordnet. Das entspricht dem gleichzeitigen Schritt von der geometrischen Analysis Fermats zur rein funktionalen des Descartes. [Vgl. Bd. I, S. 100.] In Zarlinos Harmonielehre (1558) erscheint eine echte Perspektive des reinen Tonraums. Man beginnt, Ornament- und Fundamentinstrumente zu unterscheiden. Aus Melodik und Verzierung entsteht das neue »Motiv«, und dessen Durchführung leitet zu einer Neugeburt kontrapunktischen Geistes hinüber, dem Fugenstil, dessen erster Meister Frescobaldi und dessen Gipfel Bach ist. Der vokalen Messe und Motette gegenüber entstehen die großen rein instrumental gedachten Barockformen des Oratoriums (Carissimi), der Kantate (Viadana), der Oper (Monteverdi). Mag nun die Baßmelodie gegen die Oberstimmen, oder die Oberstimmen auf dem Hintergrunde des
basso continuo
gegeneinander »konzertieren«, es sind stets Klangwelten von charakteristischem Ausdruck, die im Unendlichen des Tonraums einander entgegenwirken, sich stützen, steigern, aufheben, beleuchten, bedrohen, überschatten, ein Spiel, das man beinahe nur durch Vorstellungen der gleichzeitigen Analysis anschaulich machen kann.
    Aus diesen Formen des frühen malerischen Barock gehen im 17. Jahrhundert die Arten der Sonate hervor, Suite, Sinfonie, Concerto grosso, mit einer immer festeren inneren Struktur der Sätze und Satzfolgen, der thematischen Durchführung und Modulation. Damit ist die große Form gefunden, in deren gewaltiger Dynamik Corelli, Händel und Bach die vollkommen körperlos gewordene Musik zur herrschenden Kunst des Abendlandes erhoben. Als Newton und Leibniz um 1670 die Infinitesimalrechnung entdeckten, war der fugierte Stil vollendet. Und um 1740, als Euler begann, die endgültige Fassung der funktionalen Analysis zu formulieren, wurde durch Stamitz und seine Generation die letzte und reifste Form der musikalischen Ornamentik gefunden, die des vierteiligen Satzes als einer reinen unendlichen Bewegtheit. Denn ein Schritt war damals noch zu tun: das Thema der Fuge »ist«; das des neuen Satzes »wird«. Die Durchführung ergibt dort ein Bild, hier ein Drama. Statt einer Bilderreihe entsteht eine zyklische Folge. [A. Einstein, Gesch. der Musik, S. 67.] Der Ursprung dieser Tonsprache liegt in den endlich erreichten Möglichkeiten unsrer tiefsten und innerlichsten, der Streichmusik, und so gewiß die Geige das edelste aller Instrumente ist, welche die faustische Seele ersann und ausbildete, um von ihren letzten Geheimnissen reden zu können, so gewiß liegen ihre jenseitigsten, heiligsten Augenblicke völliger Verklärung im Streichquartett und der Violinsonate.
Hier, in der Kammermusik, erreicht die abendländische Kunst überhaupt ihren Gipfel
. Das Ursymbol des unendlichen Raumes ist hier ebenso vollkommen zum Ausdruck gelangt, wie das der gesättigten Körperlichkeit im Doryphoros des Polyklet. Wenn eine dieser unsagbar sehnsüchtigen Geigenmelodien durch den Raum irrt, den die Klänge des begleitenden Orchesters um sie breiten, bei Tartini, Nardini, Haydn, Mozart und Beethoven, so befindet man sich der Kunst gegenüber, die allein den Werken der Akropolis an die Seite zu stellen ist.
    Damit beherrscht die faustische Musik alle andern Künste. Sie verbannt die Plastik der Statue und duldet nur die vollkommen musikalische, raffiniert unantike und renaissancewidrige Kleinkunst des Porzellans, das erfunden wurde, als die Kammermusik zur entscheidenden Geltung gelangte. Während die gotische Plastik durchaus architektonisches Ornament ist, menschliches Rankenwerk, ist die des Rokoko das merkwürdige Beispiel einer Scheinplastik, die in der Tat der Formensprache der Musik vollkommen erliegt. Hier erkennt man, bis zu welchem Grade die den Vordergrund des Kunstlebens beherrschende Technik der dahinter verborgenen eigentlichen Ausdruckssprache widersprechen kann. Man vergleiche die kauernde Venus des Coyzevox (1686) im Louvre mit ihrem antiken Vorbild im Vatikan. Das ist Plastik als Musik und Plastik in ihrem eigenen Namen. Man kann hier die Art der Bewegtheit, den Fluß der Linien, das Fließende im Wesen des Steines selbst, der wie das Porzellan gewissermaßen den festen Aggregatzustand verloren hat, am besten durch musikalische Wendungen: staccato, accelerando, andante, allegro beschreiben. Daher das Gefühl, als ob der körnige Marmor hier

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