Der Untergang des Abendlandes
Alopeke daran, die individuellen Eigentümlichkeiten
im Außenbau
eines Menschen hervorzuheben, und von seinem Zeitgenossen Lysistratos, dem Bruder des Lysipp, erzählt Plinius, daß er seine Porträts durch einen Gipsabdruck des Gesichts hergestellt habe, der nur leicht nachgearbeitet wurde. Wie wenig das Porträts im Sinne der Kunst Rembrandts sind, hätte nie verkannt werden sollen. Die
Seele
fehlt. Man hat den glänzenden Verismus namentlich der Römerbüsten mit physiognomischer Tiefe verwechselt. Was die Werke höheren Ranges vor diesen Handwerks- und Virtuosenarbeiten auszeichnet, ist dem Kunstwollen von Marées oder Leibl gerade entgegengesetzt. Das Bedeutende wird nicht herausgeholt, sondern hineingetragen. Ein Beispiel ist die Demosthenesstatue, deren Urheber den Redner vielleicht wirklich gesehen hat. Da sind die Besonderheiten der Oberfläche des Körpers betont, vielleicht übertrieben – das nannte man damals Naturtreue –, aber in diese Anlage ist dann der Charaktertypus des »ernsten Redners« hineingearbeitet worden, wie ihn auf andrer »Unterlage« die Bildnisse des Aischines und Lysias in Neapel zeigen. Das ist Lebenswahrheit, aber wie sie der antike Mensch empfand, typisch und unpersönlich. Wir haben das Ergebnis mit
unsern
Augen gesehen und deshalb mißverstanden.
13
In der Ölmalerei vom Ende der Renaissance an kann man die Tiefe eines Künstlers mit Sicherheit an dem Gehalt seiner Porträts ermessen. Diese Regel erleidet kaum eine Ausnahme. Alle Gestalten im Bilde, ob einzeln, ob in Szenen, Gruppen, Massen, [Selbst die Landschaften des Barock entwickeln sich von zusammengestellten Hintergründen zu Porträts bestimmter Gegenden, deren
Seele
geschildert wird. Sie bekommen
Gesichter
.] sind dem physiognomischen Grundgefühl nach Porträts, ob sie es sein sollen oder nicht. Das stand nicht in der Wahl des einzelnen Künstlers. Nichts ist lehrreicher, als zu sehen, wie sich unter den Händen eines wirklich faustischen Menschen selbst der Akt in eine Porträtstudie verwandelt. [Man könnte die hellenistische Bildniskunst als den entgegengesetzten Vorgang bezeichnen.] Man nehme zwei deutsche Meister wie Lukas Cranach und Tilman Riemenschneider, die von aller Theorie unberührt blieben und, im Gegensatz zu Dürer und dessen Hange zu ästhetischen Grübeleien und also zur Nachgiebigkeit fremden Tendenzen gegenüber, mit vollkommener Naivität arbeiteten. In ihren – sehr seltenen – Akten zeigen sie sich gänzlich außerstande, den Ausdruck ihrer Schöpfung in die unmittelbar gegenwärtige flächenbegrenzte Körperlichkeit zu legen. Der Sinn der menschlichen Erscheinung und mithin des ganzen Werkes bleibt regelmäßig im Kopfe gesammelt, bleibt physiognomisch, nicht anatomisch, und das gilt, trotz des entgegengerichteten Wollens und trotz aller italischen Studien, auch von Dürers Lukrezia. Ein faustischer Akt – das ist ein Widerspruch in sich selbst. Daher mancher Charakterkopf auf einem unglücklichen Akt wie schon der Hiob der altfranzösischen Kathedralplastik. Daher das peinlich Gezwungene, das Schwankende und Befremdende solcher Versuche, die sich allzu deutlich als Opfer vor dem hellenisch-römischen Ideal verraten, Opfer, die der Kunstverstand, nicht die Seele bringt. Es gibt in der gesamten Malerei nach Lionardo kein bedeutendes oder bezeichnendes Werk mehr, dessen Sinn von dem euklidischen Dasein eines nackten Körpers getragen wird. Wer hier Rubens nennen und dessen unbändige Dynamik schwellender Leiber in irgendeine Beziehung zur Kunst des Praxiteles und selbst des Skopas setzen wollte, der versteht ihn nicht. Gerade die prachtvolle Sinnlichkeit hielt ihn von der
Statik
der Körper Signorellis fern. Wenn irgendein Künstler in die Schönheit nackter Leiber ein Maximum von
Werden,
von
Geschichte
dieses Blühens und Leibens, von ganz unhellenischer Ausstrahlung einer inneren Unendlichkeit gelegt hat, so war es Rubens. Man vergleiche den Pferdekopf aus dem Parthenongiebel mit denen in seiner Amazonenschlacht, und man wird auch da den tiefen metaphysischen Gegensatz in der Fassung des gleichen Erscheinungselements fühlen. Bei Rubens – um wieder an den Gegensatz von faustischer und apollinischer Mathematik zu erinnern – ist der Körper nicht Größe, sondern Beziehung; nicht die sinnvolle Regel seiner äußeren Gliederung, sondern die Fülle des strömenden Lebens in ihm, der Weg von der Jugend zum Alter ist das Motiv, das sich im Jüngsten Gericht, wo die Leiber zu Flammen werden,
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