Der Untergang des Abendlandes
abendländische Kunst Kinderporträts und Familienbildnisse zu ihren besten und innerlichsten Leistungen. Der attischen Plastik waren diese Motive völlig versagt, und wenn in hellenistischer Zeit der Putto zu einem spielerischen Motiv wird, so geschieht es, weil er einmal etwas
anderes
, nicht weil er etwas Werdendes ist. Das Kind verknüpft Vergangenheit und Zukunft. Es bezeichnet in jeder menschenbildenden Kunst, die überhaupt Anspruch auf symbolische Bedeutung erhebt, die Dauer im Wechselnden der Erscheinung, die Unendlichkeit des Lebens. Aber das antike Leben erschöpfte sich in der Fülle des Augenblicks und man verschloß das Auge vor zeitlichen Fernen. Man dachte an die Menschen gleichen Blutes, die man neben sich sah, nicht an die kommenden Geschlechter. Und deshalb hat es niemals eine Kunst gegeben, die der vertieften Darstellung von Kindern so entschieden aus dem Wege gegangen ist wie die griechische. Man überdenke die Fülle von Kindergestalten, welche von der frühen Gotik bis zum sterbenden Rokoko und vor allem auch in der Renaissance entstanden sind, und suche demgegenüber auch nur ein antikes Werk von Rang bis auf Alexander herab, das mit Absicht dem ausgebildeten Körper des Mannes oder Weibes den kindlichen zur Seite stellt, dessen Dasein noch in der Zukunft liegt.
In der
Idee des Muttertums
ist das unendliche Werden begriffen. Das mütterliche Weib ist die Zeit, ist das Schicksal. Wie der mystische Akt des Tiefenerlebnisses aus dem Sinnlichen das Ausgedehnte und also die
Welt
bildet, so entsteht durch die Mutterschaft der leibliche Mensch als einzelnes Glied dieser Welt, in der er nun ein Schicksal hat. Alle Symbole der Zeit und Ferne sind auch Symbole des Muttertums. Die
Sorge
ist das Urgefühl der Zukunft und alle Sorge ist mütterlich. Sie spricht sich in den Bildungen und Ideen von Familie und Staat aus und in dem Prinzip der
Erblichkeit
, das beiden zugrunde liegt. Man kann sie bejahen oder verneinen; man kann sorgenvoll leben oder sorglos. Und man kann also auch die Zeit im Zeichen der Ewigkeit auffassen oder in dem des Augenblicks, und deshalb das Schauspiel der Zeugung und Geburt oder das der Mutter mit dem Kinde an der Brust als Symbole des Lebens im Raume durch alle Mittel der Kunst versinnlichen. Das erste haben Indien und die Antike, das letzte Ägypten und das Abendland getan. [Vgl. Bd. I, S. 177, Bd. II, S. 912.] Phallus und Lingam haben etwas rein Gegenwärtiges, Beziehungsloses, und etwas davon liegt auch in der Erscheinung der dorischen Säule wie der attischen Statue. Die stillende Mutter verweist in die Zukunft und sie ist es, welche der antiken Kunst vollkommen fehlt. Man möchte sie nicht einmal im Stil des Phidias gebildet sehen. Man fühlt, daß diese Form dem Sinn der Erscheinung widerspricht.
In der religiösen Kunst des Abendlandes gab es keine erhabnere Aufgabe. Mit der anbrechenden Gotik wird die Maria Theotokos der byzantinischen Mosaiken zur Mater dolorosa, zur Mutter Gottes, zur Mutter überhaupt. Im germanischen Mythos erscheint sie, ohne Zweifel erst seit der Karolingerzeit, als Frigga und Frau Holle. Wir finden das gleiche Gefühl in schönen Wendungen der Minnesänger wie Frau Sonne, Frau Weite, Frau Minne ausgedrückt. Etwas Mütterliches, Sorgendes, Duldendes durchzieht das ganze Weltbild der frühgotischen Menschheit, und als das germanisch-katholische Christentum zum vollen Bewußtsein seiner selbst herangereift war, in der endgültigen Fassung der Sakramente und
gleichzeitig des gotischen Stils
, da hat es
nicht den leidenden Erlöser, sondern die leidende Mutter
in die Mitte seines Weltbildes gestellt. Um 1250 wird in dem großen Statuenepos der Kathedrale von Reims der herrschende Platz an der Mitte des Hauptportals, den in Paris und Amiens noch Christus erhalten hatte, der Madonna eingeräumt, und um dieselbe Zeit beginnt die toskanische Schule zu Arezzo und Siena (Guido da Siena), in den byzantinischen Bildtypus der Theotokos den Ausdruck mütterlicher Liebe zu legen. Die Madonnen Raffaels leiten dann zu dem weltlichen Typus des Barock hinüber, der mütterlichen Geliebten, zu Ophelia und Gretchen, deren Geheimnis sich in der Verklärung am Schlusse des zweiten Faust, in der Verschmelzung mit der frühgotischen
Maria
erschließt.
Ihr stellte die hellenische Einbildungskraft Göttinnen gegenüber, die Amazonen – wie Athene – oder Hetären – wie Aphrodite – waren. Das ist der antike Typus vollkommener Weiblichkeit, aus dem Grundgefühl
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