Der Untergang des Abendlandes
Siegerstatuen in Olympia sind unpersönliche Darstellungen einer Kampfhaltung gewesen. Es gibt bis auf Lysippos herab nicht einen echten Charakterkopf. Es gibt nur Masken. Oder man betrachte die Gestalt im ganzen: mit welcher Meisterschaft ist da der Eindruck vermieden, als ob der Kopf der bevorzugte Teil des Leibes sei. Deshalb sind diese Köpfe so klein, so unbedeutend in der Haltung, so wenig durchmodelliert. Überall sind sie durchaus als Teil des Körpers, wie Arm und Schenkel, niemals als Sitz und Symbol eines Ich geformt.
Man wird endlich sogar finden, daß der weibliche, selbst weibische Eindruck vieler dieser Köpfe des 5. und mehr noch des 4. Jahrhunderts [Der Apollo mit der Kithara in München wurde von Winckelmann und seiner Zeit als Muse bewundert und gepriesen. Ein Athenekopf nach Phidias in Bologna galt noch vor kurzem als der eines Feldherrn. In einer physiognomischen Kunst wie der des Barock wären solche Irrungen völlig unmöglich.] das allerdings ungewollte Ergebnis der Bestrebung ist, jede persönliche Charakteristik gänzlich auszuschließen. Man ist vielleicht zu dem Schlusse berechtigt, daß der ideale Gesichtstypus dieser Kunst, der sicherlich nicht der des Volkes war, wie die spätere naturalistische Bildnisplastik sofort beweist, als Summe von lauter Verneinungen, des Individuellen und Geschichtlichen nämlich, also aus der Beschränkung der Gesichtsbildung auf das rein Euklidische entstanden ist.
Das Porträt der großen Barockzeit behandelt dagegen mit allen Mitteln des malerischen Kontrapunkts, die wir als Träger räumlicher
und
historischer Fernen kennen gelernt haben, durch die in Braun getauchte Atmosphäre, die Perspektive, den bewegten Pinselstrich, die zitternden Farbentöne und Lichter den Leib als etwas an sich Unwirkliches, als ausdrucksvolle Hülle eines raumbeherrschenden Ich. (Die Freskotechnik, euklidisch wie sie ist, schließt die Lösung einer solchen Aufgabe vollkommen aus.) Das ganze Gemälde hat nur das eine Thema: Seele. Man achte darauf, wie bei Rembrandt (etwa auf der Radierung des Bürgermeisters Six oder dem Architektenbildnis in Kassel) und zuletzt noch einmal bei Marées und Leibl (auf dem Bildnis der Frau Gedon) die Hände und die Stirn gemalt sind, durchgeistigt bis zur Auflösung der Materie, visionär, voller Lyrik – und vergleiche damit die Hand und die Stirn eines Apollo oder Poseidon aus der Zeit des Perikles.
Deshalb war es ein echtes und tiefes Empfinden der Gotik, den Leib zu verhüllen, nicht des Leibes wegen, sondern um in der Ornamentik der Gewandung eine Formensprache zu entwickeln, die mit der Sprache des Kopfes und der Hände wie eine Fuge des Lebens zusammenklang: ganz so verhielten sich die Stimmen im Kontrapunkt und im Barock der basso continuo zu den Oberstimmen des Orchesters. Bei Rembrandt ist es immer die Baßmelodie des Kostüms, über welcher die Motive des Kopfes spielen.
Die altägyptische Statue verneint wie die gotische Gewandfigur den Eigenwert des Leibes: diese durch die ganz ornamental behandelte Kleidung, deren Physiognomie die Sprache des Antlitzes und der Hände verstärkt, jene, indem sie den Körper – wie die Pyramide, den Obelisken – in einem mathematischen Schema hält und das Persönliche auf den Kopf, mit einer wenigstens in der Skulptur nie wieder erreichten Größe der Auffassung beschränkt. Der Faltenwurf soll in Athen den Sinn des Leibes offenbaren, im Norden ihn auflösen. Das Gewand wird dort zum Körper, hier zur Musik – dies ist der tiefe Gegensatz, der in Werken der Hochrenaissance zu einem schweigenden Kampf zwischen dem gewollten und dem unbewußt hervordringenden Ideal des Künstlers führt, in welchem das erste, antigotische, oft genug auf der Oberfläche, das zweite, von der Gotik zum Barock leitende, immer in der Tiefe siegt.
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Ich fasse jetzt den Gegensatz von apollinischem und faustischem Menschheitsideal zusammen. Akt und Porträt verhalten sich wie Körper und Raum, wie Augenblick und Geschichte, Vordergrund und Tiefe, wie die euklidische zur analytischen Zahl, wie Maß und Beziehung. Die
Statue
wurzelt im Boden, die Musik – und das abendländische
Porträt ist
Musik, aus Farbentönen gewebte Seele – durchdringt den grenzenlosen Raum. Das Freskogemälde ist mit der Wand verbunden, verwachsen; das Ölgemälde, als Tafelbild, ist frei von den Schranken eines Ortes. Die apollinische Formensprache offenbart ein Gewordnes, die faustische vor allem auch ein Werden.
Deshalb zählt die
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