Der Untergang des Abendlandes
man damals Zeichnung, Kontur, Komposition, Gruppe nannte, will er zur Anbetung des ewigen Raumes vordringen, in dem alles Körperliche schwebt wie die Planeten im kopernikanischen System, wie die Töne einer Bachschen Orgelfuge in der Dämmerung alter Kirchen, ein Bild von solcher Dynamik der Ferne, daß es innerhalb der technischen Möglichkeiten dieser Zeit Torso bleiben mußte.
In der Sixtinischen Madonna resümiert Raffael die gesamte Renaissance durch die Linie des Umrisses, die den ganzen Gehalt des Werkes in sich saugt. Es ist die
letzte große Linie
der abendländischen Kunst. Ihre gewaltige Innerlichkeit, die den geheimen Widerspruch mit der Konvention bis zur äußersten Spannung treibt, macht Raffael zu dem am wenigsten verstandenen Künstler der Renaissance. Er kämpfte nicht mit Problemen. Er ahnte sie nicht einmal. Aber er führte die Kunst bis an deren Schwelle, wo der Entscheidung nicht mehr ausgewichen werden konnte. Er starb, als er
innerhalb
ihrer Formenwelt das letzte vollendet hatte. Der Menge erscheint er flach. Sie wird niemals empfinden, was in seinen Entwürfen vor sich geht. Aber hat man wohl die Morgenwölkchen bemerkt, die, sich in Kinderköpfe verwandelnd, die ragende Gestalt umgeben? Es sind die Scharen der Ungebornen, welche die Madonna ins Leben zieht. Diese lichten Wolken erscheinen im gleichen Sinne auch in der mystischen Schlußszene des zweiten Faust. Gerade das Abweisende, die Unpopularität im schönsten Sinne schließt hier die innere Überwindung des Renaissancegefühls in sich. Perugino versteht man beim ersten Blick; bei Raffael glaubt man es nur. Obwohl zunächst gerade die Linie, das Zeichnerische eine antike Tendenz ankündigt, ist es doch im Raum verschwebend, überirdisch, beethovenartig. Raffael ist in diesem Werk verschlossener als jeder andre, viel mehr selbst als Michelangelo, dessen Wollen durch das Fragmentarische seiner Arbeiten deutlich wird. Fra Bartolommeo hatte die stoffliche Umrißlinie noch ganz in seiner Gewalt; sie ist ganz Vordergrund; ihr Sinn erschöpft sich in der Abgrenzung von Körpern. Bei Raffael schweigt sie, wartet sie, verhüllt sie sich. Sie steht, bei äußerster Spannung, unmittelbar vor ihrer Auflösung im Unendlichen, in Raum und Musik.
Lionardo steht jenseits der Grenze. Der Entwurf zur Anbetung der drei Könige
ist
schon Musik. Es liegt ein tiefer Sinn in dem Umstande, daß er hier wie bei seinem Hieronymus bei der braunen Untermalung stehen blieb, dem »Rembrandtstadium«, dem atmosphärischen Braun des nächsten Jahrhunderts. Für ihn war in diesem Zustande die äußerste Vollendung und Deutlichkeit der Intention erreicht. Jeder Schritt weiter in eine Farbenbehandlung, deren Geist damals noch in den metaphysischen Bedingungen des Freskostils befangen war, hätte die Seele des Entwurfs zerstört. Gerade weil er die Symbolik der Ölmalerei in ihrer ganzen Tiefe vorfühlte, fürchtete er das Freskenhafte der »Fertigmaler«, das seine Idee verflachen mußte. Die Studien zu dem Gemälde beweisen, wie sehr ihm die
Radierung
in der Art Rembrandts verwandt war, eine Kunst aus der Heimat des Kontrapunkts, die man in Florenz nicht kannte. Erst die Venezianer, außerhalb der florentinischen Konvention stehend, haben erreicht, was er hier suchte: eine Farbenwelt, die dem Raume, nicht den Dingen dient.
Aus demselben Grunde hat Lionardo – nach unendlichen Versuchen – den Christuskopf des Abendmahls unvollendet gelassen. Auch für ein Porträt in der großen Auffassung Rembrandts, für eine aus bewegten Pinselstrichen, Lichtern und Tönen aufgebaute Seelengeschichte war der Mensch dieser Zeit nicht reif. Aber nur Lionardo war groß genug, um diese Schranke als Schicksal zu erleben. Die andern hatten nur den Kopf malen wollen, wie ihn die Schule vorschrieb. Lionardo, der hier zum erstenmal auch die
Hände
sprechen ließ, und zwar mit einer physiognomischen Meisterschaft, die später zuweilen erreicht, aber nie übertroffen worden ist, wollte unendlich viel mehr. Seine Seele war weit in die Zukunft verloren, aber sein Menschliches, sein Auge, seine Hand gehorchten dem Geiste seiner Zeit. Sicherlich war er in einer verhängnisvollen Weise der Freieste von den drei Großen. Vieles von dem, womit Michelangelos mächtige Natur vergebens rang, hat ihn gar nicht mehr berührt. Probleme der Chemie, der geometrischen Analysis, der Physiologie – Goethes »lebendige Natur« war auch die seine –, der Fernwaffentechnik sind ihm vertraut. Tiefer als
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