Der Untergang des Abendlandes
wirkenden Körper der Blasinstrumente mit dem Körper attischer Statuen; man vergleiche, was Haydn und was Praxiteles eine
Figur
nannten, nämlich die eines rhythmischen Motivs im Gewebe der Stimmen oder die eines Athleten, eine Bezeichnung, welche der Mathematik entnommen ist und verrät, daß dieses jetzt endlich erreichte Ziel das einer Vereinigung künstlerischen und mathematischen Geistes ist, denn zugleich mit Musik und Plastik haben die Analysis des Unendlichen und die euklidische Geometrie ihre Aufgabe und den letzten Sinn ihrer Zahlensprache mit voller Deutlichkeit begriffen. Die Mathematik des Schönen und die Schönheit des Mathematischen sind nicht mehr zu trennen. Der unendliche Raum der Töne und der völlig freistehende Körper von Marmor oder Bronze sind eine unmittelbare Interpretation des Ausgedehnten. Sie gehören zur Zahl als Beziehung und zur Zahl als Maß. Im Fresko wie im Ölbilde wird man, in den Gesetzen von Proportion und Perspektive, nur
Andeutungen
von Mathematischem finden. Diese beiden letzten und strengsten Künste
sind
Mathematik. Auf diesem Gipfel erscheint die faustische wie die apollinische Kunst vollkommen.
Mit dem Ausgang der Fresko- und Ölmalerei beginnt die dichte Reihe großer Meister der absoluten Plastik und Musik. Auf Polyklet folgen Phidias, Paionios, Alkamenes, Skopas, Praxiteles, Lysippos, auf Bach und Händel Gluck, Stamitz, die Söhne Bachs, Haydn, Mozart, Beethoven. Jetzt erscheint die Menge wunderbarer, heute längst verschollener Instrumente, eine ganze Zauberwelt abendländischen Entdecker- und Erfindergeistes, um immer neue Klänge und Tonfarben für den Dienst und die Steigerung des Ausdrucks heranzuziehen, jetzt die Fülle großer, feierlicher, zierlicher, leichter, spöttischer, lachender, schluchzender Formen von strengstem Bau, auf die sich heute niemand mehr versteht; es gab damals, vor allem im Deutschland des 18. Jahrhunderts, eine wirkliche
Kultur der Musik
, die das ganze Leben durchdrang und erfüllte, deren Typus Hoffmanns Kapellmeister Kreisler wurde und von der uns kaum die Erinnerung mehr geblieben ist.
Endlich, mit dem 18. Jahrhundert, stirbt auch die Architektur. Sie löst sich, sie ertrinkt in der Musik des Rokoko. Alles, was man an dieser letzten wundervollen, fragilen Blüte der abendländischen Baukunst getadelt hat – weil man ihre Entstehung aus dem Geist der Fuge nicht verstand –: das Maßlose, Formlose, Verschwebende, Wogende, Funkelnde, die Zerstörung der Fläche und Gliederung für das Auge, alles das ist nur ein Sieg der Töne und Melodien über Linien und Wände, der Triumph des reinen Raumes über den Stoff, des absoluten Werdens über das Gewordne. Es sind nicht mehr Baukörper, diese Abteien, Schlösser, Kirchen mit ihren geschwungenen Fassaden, Portalen und Höfen mit Muschelinkrustation, mächtigen Treppenhäusern, Galerien, Sälen, Kabinetten, sondern steingewordene Sonaten, Menuette, Madrigale, Präludien; Kammermusik in Stuck, Marmor, Elfenbein und edlen Hölzern; Kantilenen von Voluten und Kartuschen, Kadenzen von Freitreppen und Firsten. Der Dresdner Zwinger ist das vollkommenste Stück Musik in der gesamten Weltarchitektur, mit Ornamenten wie der Ton einer edlen alten Geige, ein allegro fugitivo für kleines Orchester.
Deutschland hat die großen Musiker und
also auch
die großen Baumeister – Pöppelmann, Schlüter, Bähr, Neumann, Fischer von Erlach, Dinzenhofer – dieses Jahrhunderts hervorgebracht. In der Ölmalerei spielt es keine, in der Instrumentalmusik die entscheidende Rolle.
17
Ein Wort, das erst zur Zeit Manets in Aufnahme kam – zuerst ein Spottname wie Barock und Rokoko – faßt die Eigenart des faustischen Kunstvortrags, wie er sich aus den Voraussetzungen der Ölmalerei allmählich entwickelt hat, sehr glücklich zusammen. Man spricht von Impressionismus, ohne Umfang und tieferen Sinn des Begriffes, wie er hätte gefaßt werden sollen, zu ahnen, man leitet ihn aus der letzten Nachblüte einer Kunst ab, die ganz und gar zu ihm gehört. Was ist Nachahmung des »Eindrucks«? Etwas rein Abendländisches ohne Zweifel, etwas, das mit der Idee des Barock, selbst schon den unbewußten Zielen der gotischen Architektur verwandt und den Absichten der Renaissance streng entgegengesetzt ist. Bedeutet es nicht die Tendenz eines Wachseins, den reinen unendlichen Raum als die unbedingte Wirklichkeit höchster Ordnung und alle sinnlichen Gebilde »in ihm« als zweiten Ranges und bedingt zu empfinden, und zwar mit
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