Der Untergang des Abendlandes
Dürer, kühner als Tizian, umfassender als irgendein Mensch der Zeit, ist er der
eigentlich fragmentarische
Künstler geblieben, [In Renaissancewerken wirkt das Allzufertige oft genug peinlich. Wir fühlen da einen Mangel an »Unendlichkeit«. Es gibt in ihnen keine Geheimnisse und Entdeckungen.] aber aus einem anderen Grunde als Michelangelo, der verspätete Plastiker, und im Gegensatz zu Goethe, für den alles schon zurücklag, was dem Schöpfer des Abendmahls unerreichbar blieb. Michelangelo wollte eine erstorbene Formenwelt noch einmal zum Leben zwingen, Lionardo fühlte eine neue in der Zukunft, Goethe ahnte, daß es keine mehr gab. Zwischen ihnen liegen die drei reifen Jahrhunderte faustischer Kunst.
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Es ist noch übrig, die Vollendung der abendländischen Kunst in großen Zügen zu verfolgen. Die innerste Notwendigkeit aller Geschichte ist hier am Werke. Wir haben gelernt, Künste als Urphänomene zu begreifen. Wir suchen nicht mehr nach Ursachen und Wirkungen im physikalischen Sinne, um ihrer Entwicklung Zusammenhang zu geben. Wir haben den Begriff
des Schicksals einer Kunst
in sein Recht eingesetzt. Wir haben endlich Künste als
Organismen
erkannt, die in dem größeren Organismus einer Kultur ihre bestimmte Stellung einnehmen, geboren werden, reifen, altern und
für immer
sterben.
Mit dem Abschluß der Renaissance – der letzten Verirrung – ist die abendländische Seele zum reifen Bewußtsein ihrer Kräfte und Möglichkeiten gelangt. Sie hat ihre Künste
gewählt
. Eine Spätzeit, das Barock wie die Ionik, weiß, was die Formensprache der Kunst zu bedeuten hat. Sie war bis dahin eine philosophische Religion, jetzt wird sie eine religiöse Philosophie. Sie wird städtisch und weltlich. An die Stelle namenloser Schulen treten die großen Meister. Es erscheint auf der Höhe jeder Kultur das Schauspiel einer prachtvollen
Gruppe großer Künste
, wohlgeordnet und durch das zugrunde liegende Ursymbol zu einer Einheit verknüpft. Die
apollinische Gruppe
, zu welcher die Vasenmalerei, das Fresko, das Relief, die Architektur der Säulenordnungen, das attische Drama, der Tanz gehören, hat die Skulptur der nackten Statue zur Mitte. Die
faustische
Gruppe bildet sich um das Ideal reiner räumlicher Unendlichkeit. Ihren Mittelpunkt bildet die instrumentale Musik. Von ihr aus spinnen sich feine Fäden in alle geistigen Formensprachen hinüber und verweben die infinitesimale Mathematik, die dynamische Physik, die Propaganda des Jesuitenordens und die Dynamik der berühmten Schlagworte der Aufklärung, die moderne Maschinentechnik, das Kreditsystem und die dynastisch-diplomatische Staatsorganisation zu einer ungeheuren Totalität seelischen Ausdrucks. Mit dem inneren Rhythmus der Dome beginnend, mit Wagners »Tristan« und »Parsifal« endend, erreicht die künstlerische Bewältigung des unendlichen Raums ihre vollkommene Ausbildung um 1550. Die Plastik erlischt mit Michelangelo in Rom, gerade damals, als die Planimetrie, die bis dahin die Mathematik beherrscht hatte, ihr unwesentlichster Teil wird. Zugleich mit Zarlinos Harmonielehre und Theorie des Kontrapunkts (1558) und der ebenfalls von Venedig ausgehenden Methode des Generalbasses, beides eine Perspektive und Analysis des Tonraumes, beginnt ihre Schwester, die nordische Infinitesimalrechnung, ihren Aufstieg.
Ölmalerei und Instrumentalmusik, die Künste des Raumes, treten ihre Herrschaft an. In der Antike waren es
folglich
die stofflich-euklidischen Künste: das streng flächenhafte Fresko und die freistehende Statue, die gleichzeitig – um 600 – in den Vordergrund treten. Und zwar sind es die beiden Arten von Malerei, die, in ihrer Formensprache gemäßigter, zugänglicher, zuerst heranreifen. Dem Ölgemälde gehört die Zeit von 1550-1650 ebenso unbestritten wie dem Fresko und Vasenbild das 6. Jahrhundert. Die Symbolik von Raum und Körper, ausgedrückt durch das Kunstmittel hier der
Perspektive
und dort der
Proportion
, erscheint in der mittelbaren Sprache des Gemäldes nur angedeutet. Diese Künste, welche das jeweilige Ursymbol, also Möglichkeiten des Ausgedehnten, in der Bildfläche nur vorzutäuschen vermögen, konnten das antike und abendländische Ideal wohl bezeichnen und heraufrufen, aber nicht vollenden. Auf dem Wege der Spätzeit erscheinen sie als Vorstufen der letzten Höhe. Je mehr der große Stil sich seiner Vollendung nähert, desto entschiedener wird der Drang nach einer ornamentalen Sprache von unerbittlicher Klarheit der Symbolik.
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