Der Untergang des Abendlandes
stand, lag den andern Renaissancekünstlern und den weicheren Griechen viel näher.
Aber der antike Bildhauer faßte eine augenblickliche leibliche Haltung in Stein. Dessen ist der faustische Mensch gar nicht fähig. Wie er in der Liebe nicht zuerst den sinnlichen Akt der Vereinigung von Mann und Weib findet, sondern die große Liebe Dantes und darüber hinaus die Idee der sorgenden Mutter, so hier. Michelangelos Erotik – die Beethovens – war so unantik als möglich; sie stand unter dem Aspekt der Ewigkeit und Ferne, nicht der Sinne und des flüchtigen Augenblicks. In Michelangelos Akten – einem Opfer an sein hellenisches Idol – verneint und übertönt die Seele die sichtbare Form. Die eine will Unendlichkeit, die andre Maß und Regel, die eine will Vergangenheit und Zukunft verknüpfen, die andre in der Gegenwart beschlossen sein. Das antike Auge saugt die plastische Form in sich auf. Michelangelo aber sah mit dem geistigen Auge und durchbrach die Vordergrundsprache der unmittelbaren Sinnlichkeit. Und endlich vernichtete er die Bedingungen dieser Kunst. Der Marmor wurde seinem Formwollen zu gering. Michelangelo hört auf Bildhauer zu sein und geht zur Architektur über. Im hohen Alter, als er nur noch wilde Fragmente wie die Madonna Rondanini zustande brachte und seine Gestalten kaum mehr aus dem Rohen herausmeißelte, brach die
musikalische
Tendenz seines Künstlertums durch. Endlich ließ sich der Wille zu einer kontrapunktischen Form nicht mehr bändigen, und aus tiefstem Ungenügen an der Kunst, an welche er sein Leben verschwendet hatte, zerbrach sein ewig ungestilltes Ausdrucksbedürfnis die architektonische Regel der Renaissance und schuf das römische Barock. An die Stelle des Verhältnisses von Stoff und Form setzt er den Kampf von Kraft und Masse. Er faßt die Säulen in Bündel zusammen oder drängt sie in Nischen; er durchbricht die Geschosse mit mächtigen Pilastern; die Fassade erhält etwas Wogendes und Drängendes; das Maß weicht der Melodie; die Statik der Dynamik. Die faustische Musik hatte sich damit die erste unter den übrigen Künsten dienstbar gemacht.
Mit Michelangelo ist die Geschichte der abendländischen Plastik zu Ende. Was nach ihm kommt, sind Mißverständnisse und Reminiszenzen. Sein legitimer Erbe ist
Palestrina
.
Lionardo redet eine andre Sprache als seine Zeitgenossen. In wesentlichen Dingen reichte sein Geist in das nächste Jahrhundert, und nichts band ihn wie Michelangelo mit allen Fasern seines Herzens an das toskanische Formideal. Er allein hatte weder den Ehrgeiz, Bildhauer, noch den, Architekt zu sein. Er trieb seine anatomischen Studien – ein seltsamer Irrweg der Renaissance, dem hellenischen Lebensgefühl und dessen Kultus der körperlichen Außenfläche nahezukommen!– nicht mehr wie Michelangelo der Plastik wegen; er trieb nicht mehr
topographische
Vordergrunds- und Oberflächenanatomie, sondern
Physiologie
, um der inneren Geheimnisse willen. Michelangelo wollte den ganzen Sinn der menschlichen Existenz in die Sprache des sichtbaren Leibes zwingen; Lionardos Skizzen und Entwürfe zeigen das Gegenteil. Sein vielbewundertes
sfumato
ist das erste Zeichen einer Verleugnung der Körpergrenzen um des
Raumes
willen. Von hier geht der Impressionismus aus. Lionardo beginnt mit dem Innern, dem Räumlich-Seelenhaften, nicht mit abgewogenen Umrißlinien, und legt zuletzt – wenn er es überhaupt tut und das Bild nicht unvollendet läßt – die farbige Substanz wie einen Hauch über die eigentliche, körperlose, ganz unbeschreibliche Fassung des Bildes. Raffaels Gemälde zerfallen in »Pläne«, in welche wohlgeordnete Gruppen verteilt sind, und ein Hintergrund schließt das Ganze maßvoll ab. Lionardo kennt nur den einen, weiten, ewigen Raum, in dem seine Gestalten gleichsam verschweben. Der eine gibt innerhalb des Bildrahmens eine Summe einzelner und naher Dinge, der andre einen Ausschnitt aus dem Unendlichen.
Lionardo hat den Blutkreislauf entdeckt
. Was ihn dahin führte, war kein Renaissancegefühl. Seine Gedankengänge heben ihn aus der ganzen Sphäre seiner Zeitgenossen heraus. Weder Michelangelo noch Raffael wären dahin gekommen, denn die Maleranatomie sah nur auf Form und Lage, nicht auf die Funktion der Teile. Sie war, mathematisch gesprochen, stereometrisch, nicht analytisch. Hat man nicht das Studium von
Leichen
zureichend befunden, um die großen Gemäldeszenen auszuführen? Aber das hieß das Werden zugunsten des Gewordnen unterdrücken. Man rief die
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