Der Untergang des Abendlandes
sozialethisches Ziel, ein drittes Reich sich richtet, während in der tiefsten Tiefe ein dumpfes Gefühl nicht schweigen will, daß dieser ganze atemlose Eifer die verzweifelte Selbsttäuschung einer Seele ist, die nicht ruhen darf und kann. Aus dieser tragischen Situation – der Umkehrung des Hamletmotivs – ist Nietzsches gewaltsame Konzeption der Ewigen Wiederkunft hervorgegangen, an die er niemals mit gutem Gewissen geglaubt hat, die er aber trotzdem festhielt, um das Gefühl einer Sendung in sich zu retten. Auf dieser Lebenslüge ruht
Bayreuth
, das etwas sein
wollte
im Gegensatz zu Pergamon, das etwas
war
. Und ein Zug dieser Lüge haftet dem gesamten politischen, wirtschaftlichen, ethischen Sozialismus an, der gewaltsam über den vernichtenden Ernst seiner letzten Einsichten schweigt, um die Illusion der geschichtlichen Notwendigkeit seines Daseins zu retten.
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Es bleibt noch ein Wort über die
Morphologie
der
Philosophiegeschichte
zu sagen.
Es gibt keine Philosophie überhaupt: jede Kultur besitzt ihre eigne; sie ist ein Teil ihres symbolischen Gesamtausdrucks und bildet mit ihren
Problemstellungen
und
Denkmethoden
eine geistige Ornamentik in strenger Verwandtschaft zu derjenigen der Architektur und bildenden
Kunst
. Aus der Höhe und Ferne betrachtet, ist es sehr nebensächlich, zu welchen sprachlich ausgedrückten »Wahrheiten« diese Denker innerhalb ihrer Schulen überhaupt gelangt sind – denn Schule, Konvention und Formenschatz sind hier wie in jeder großen Kunst die grundlegenden Elemente. Unendlich viel wichtiger als die Antworten sind die Fragen, und zwar hinsichtlich ihrer Auswahl und inneren Form, denn die
besondere
Art, wie ein Makrokosmos vor dem verstehenden Auge des Menschen einer bestimmten Kultur daliegt, gestaltet im voraus die gesamte Not und Art des Fragens.
Die antike und faustische Kultur haben nicht weniger wie die indische und chinesische ihre eigne Art, und zwar werden ihre großen Fragen
alle
am Anfang gestellt. Es gibt kein modernes Problem, das nicht schon die Gotik gesehen und in Form gebracht hätte. Es gibt kein hellenistisches, das nicht in den altorphischen Tempellehren zuerst aufgetaucht sein muß.
Es ist Nebensache, ob diese Sitte des grüblerischen Denkens in mündlicher Tradition oder in Büchern zum Ausdruck kommt, ob diese Schriften
persönliche
Schöpfungen eines Ich sind wie in unserer Literatur, oder eine anonyme, beständig schwankende Textmasse wie in der indischen, ob eine Reihe begrifflicher Systeme entsteht oder die letzten Einsichten in den Ausdruck von Kunst und Religion verkleidet bleiben wie in Ägypten. Aber der Gang dieser Lebensläufe von Denkweisen ist überall der gleiche. Am Anfang jeder Frühzeit, verschwistert mit der großen Architektur und Religion, ist Philosophie der geistige Widerhall eines gewaltigen metaphysischen Erlebens und dazu bestimmt, die heilige Kausalität des gläubig geschauten Weltbildes kritisch zu bestätigen. [Vgl. Bd. II, S. 881 ff., 927 ff.] Nicht nur die naturwissenschaftlichen, sondern schon die philosophischen Grundunterscheidungen sind abhängig und abgelöst von den Elementen der zugehörigen Religion. In dieser Frühzeit sind die Denker
Priester,
nicht nur dem Geist, sondern selbst dem Stande nach. Das gilt von Scholastik und Mystik der gotischen und vedischen wie der homerischen [Vgl. Bd. II, S. 903f. Vielleicht ist der seltsame Stil Heraklits, welcher aus einem Priestergeschlecht des Tempels von Ephesus stammte, eine Probe der Form, in welcher die altorphische Weisheit mündlich überliefert wurde.] und früharabischen Jahrhunderte. [Vgl. Bd. II, S. 864 f.] Erst mit Anbruch der Spätzeit wird die Philosophie städtisch und weltlich. Sie befreit sich aus der Dienstbarkeit der Religion und wagt es, diese selbst zum Objekt erkenntniskritischer Methoden zu machen. Denn das große Thema der brahmanischen, ionischen und Barockphilosophie ist das Erkenntnisproblem. Der städtische Geist wendet sich seinem eigenen Bilde zu, um festzustellen, daß es für das Wissen keine höhere Instanz gebe als ihn. Deshalb tritt das Denken nunmehr in die Nachbarschaft der höheren Mathematik, und statt der Priester finden wir Leute von Welt, Staatsmänner, Kaufherren, Entdecker, in hohen Stellungen und großen Aufgaben erprobt, deren »Denken über das Denken« sich auf einer tiefen Lebenserfahrung aufbaut. Das ist die Reihe großer Gestalten von Thales bis Protagoras, von Bacon bis Hume, die Reihe der vorkonfuzianischen und
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