Der Untergang des Abendlandes
vorbuddhistischen Denker, von denen wir nicht viel mehr wissen, als daß sie dagewesen sind.
An ihrem Ende stehen Kant und Aristoteles. [Dies ist die
scholastische
Seite der Spätzeit; die mystische, welcher Pythagoras und Leibniz nicht fern standen, erreicht ihren Gipfel in Plato und Goethe und hat sich von Goethe über die Romantiker, Hegel und Nietzsche fortgesetzt, während die Scholastik, die ihre Aufgaben erschöpft hatte, jenseits von Kant – und Aristoteles – zu einer Kathederphilosophie mit fachwissenschaftlichem Betrieb herabsinkt.] Was nach ihnen beginnt, ist Philosophie der Zivilisation. Es gibt in jeder großen Kultur ein aufsteigendes Denken, das die Urfragen am Anfang stellt und sie mit steigender Gewalt des geistigen Ausdrucks in immer neuen Antworten erschöpft – Antworten, wie gesagt, von
ornamentaler
Bedeutung –, und ein absteigendes, für das die Erkenntnisprobleme irgendwie fertig, überholt, bedeutungslos geworden sind. Es gibt eine metaphysische Periode, zuerst von religiöser, zuletzt von rationalistischer Fassung, wo das Denken und Leben noch Chaos in sich hat und aus einer Überfülle heraus weltgestaltend wirkt, und eine ethische, in welcher das großstädtisch gewordene Leben sich selbst fragwürdig erscheint und den Rest philosophischer Gestaltungskraft auf seine eigne Haltung und Erhaltung verwenden muß. In der einen
offenbart
sich das Leben; die zweite hat das Leben
zum Gegenstand
. Die eine ist »theoretisch«, schauend im großen Sinne, die andre notgedrungen praktisch. Noch das kantische System ist in seinen tiefsten Zügen
geschaut
und
danach erst
logisch und systematisch formuliert und geordnet worden.
Ein Beweis ist Kants Verhältnis zur Mathematik. Wer nicht in die Formenwelt der Zahlen eingedrungen ist, wer sie nicht als Symbole in sich erlebt hat, ist kein echter Metaphysiker. In der Tat waren es die großen Denker des Barock, welche die Analysis geschaffen haben, und das Entsprechende gilt von den Vorsokratikern und Plato. Descartes und Leibniz sind neben Newton und Gauß, Pythagoras und Plato neben Archytas und Archimedes Gipfel der mathematischen Entwicklung. Aber schon Kant ist als Mathematiker bedeutungslos. Er ist in die letzten Feinheiten der damaligen Infinitesimalrechnung so wenig eingedrungen, als er Leibnizens Axiomatik sich zu eigen gemacht hat. Darin gleicht er seinem »Zeitgenossen« Aristoteles, und von nun an zählt kein Philosoph in der Mathematik mehr mit. Fichte, Hegel, Schelling und die Romantiker sind völlig unmathematisch, so gut wie Zenon und Epikur. Schopenhauer ist auf diesem Gebiet schwach bis zur Borniertheit, von Nietzsche ganz zu schweigen. Mit der Formenwelt der Zahlen ging eine große Konvention verloren. Seitdem fehlt es nicht nur an einer Tektonik der Systeme, es fehlt auch an dem, was man den
großen Stil
des Denkens nennen darf. Schopenhauer hat sich selbst einen Gelegenheitsdenker genannt.
Die Ethik ist über ihren Rang als Teil einer abstrakten Theorie hinausgewachsen. Von nun an ist sie
die
Philosophie, welche die andern Gebiete sich einverleibt; das praktische Leben rückt in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Leidenschaft des reinen Denkens sinkt. Die Metaphysik, Herrin von gestern, wird zur Dienerin von heute. Sie hat nur noch das Fundament zu liefern, das eine praktische Gesinnung trägt. Und das Fundament wird immer überflüssiger. Man vernachlässigt, man verspottet das Metaphysische, das Unpraktische, die »Steine statt des Brotes«. Bei Schopenhauer ist es das vierte Buch, um dessentwillen die drei ersten da sind. Kant
glaubte
nur, daß es bei ihm ebenso sei. In der Tat ist ihm noch die reine, nicht die praktische Vernunft Mittelpunkt der Schöpfung. Genau so scheidet sich die antike Philosophie vor und nach Aristoteles: dort ein groß aufgefaßter Kosmos, kaum bereichert durch eine
formale
Ethik, hier die Ethik selbst als Programm, als Not, auf der Basis einer nebenher und flüchtig konzipierten Metaphysik. Und man fühlt, daß die logische Gewissenlosigkeit, mit der zum Beispiel Nietzsche solche Theorien schnell hinwirft, gar nicht imstande ist, den Wert seiner eigentlichen Philosophie herabzusetzen.
Bekanntlich ist Schopenhauer [Neue Paralipomena § 656.] nicht von seiner Metaphysik zum Pessimismus, sondern vom Pessimismus, der ihn in seinem 17. Jahre überfiel, zur Entwicklung seines Systems gekommen. Shaw, ein sehr merkwürdiger Zeuge, macht im Ibsenbrevier darauf aufmerksam, daß man bei Schopenhauer – wie
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