Der Untergang des Abendlandes
Mittelalter (1909), S. 64 ff.] Die »Natur« des faustischen Menschen endlich hat eine
Dynamik des unbegrenzten Raumes
, eine
Physik der Ferne
hervorgebracht. Zur ersten gehören die Vorstellungen von
Stoff und Form,
zur zweiten gut spinozistisch die von
Substanzen
und ihren sichtbaren oder geheimen
Attributen,
[Für die Metalle ist »Merkur« das Prinzip des substanziellen Charakters (Glanz, Dehnbarkeit, Schmelzbarkeit), »Sulfur« das der attributiven Erzeugungen wie Brennen und Verwandlung, vgl. Strunz, Gesch. der Naturwiss. im Mittelalter (1910), S. 73 ff.] zur dritten die von
Kraft
und
Masse.
Die apollinische Theorie ist ein ruhiges Betrachten, die magische ein verschwiegenes Wissen um – man kann auch da den religiösen Ursprung der Mechanik erkennen – die »Gnadenmittel« der Alchymie, die faustische von Anfang an
Arbeitshypothese.
[Vgl. Bd. II, S. 929, 1186.] Der Grieche fragte nach dem Wesen des sichtbaren Seins; wir fragen nach der Möglichkeit, uns der unsichtbaren Triebkräfte des Werdens zu bemächtigen. Was für jenen die liebevolle Versenkung in den Augenschein, das ist für uns die gewaltsame Befragung der Natur, das methodische Experiment.
Und wie die Problemstellung und Methoden, so sind auch die Grundbegriffe Symbole je einer und nur dieser einen Kultur. Die antiken Urworte ᾰπειρον, ἀρχή, μορφή, ὔλη sind in unsere Sprachen nicht übersetzbar; ἀρχή mit Urstoff übersetzen, heißt den apollinischen Gehalt beseitigen und den Rest, das bloße Wort, mit einem fremden Bedeutungsgefühl erklingen lassen. Was ein antiker Mensch als »Bewegung« im Raum vor sich sah, verstand er als ἀλλοίωσις, Veränderung der Lage von Körpern. Von der Art, wie wir Bewegungen sehend erleben, haben wir den Begriff »Prozeß« abgezogen, von
procedere
, vorschreiten, womit die ganze Richtungsenergie ausgedrückt ist, ohne die es für uns kein Nachdenken über Naturvorgänge gibt. Die antike Naturkritik hat die sichtbaren Aggregatzustände als die Urverschiedenheit angesetzt, die berühmten vier Elemente des Empedokles, nämlich das starr Körperliche, das unstarr Körperliche und das Nichtkörperliche. [Erde, Wasser, Luft. Das Feuer gehört für das antike Auge als viertes dazu. Es ist der stärkste optische Eindruck, den es gibt, und gestattet deshalb dem antiken Geist keinen Zweifel an seiner Körperlichkeit.] Die arabischen »Elemente« sind in den Vorstellungen der geheimen Konstitutionen und Konstellationen enthalten, welche die Erscheinung der Dinge fürs Auge bestimmen. Man versuche, dieser Fühlweise näherzukommen, und man wird finden, daß der Gegensatz von fest und flüssig für einen Aristotelesschüler und einen Syrer ganz Verschiedenes bedeuten, nämlich dort Grade der Körperlichkeit, hier magische Attribute. So entsteht
das Bild des chemischen Elements
, jene Art magischer Substanzen, die durch geheimnisvolle Kausalität aus den Dingen erscheinen und wieder in ihnen verschwinden, die sogar den Einflüssen der Gestirne unterliegen. Die Alchymie enthält den tiefen wissenschaftlichen Zweifel an der plastischen Wirklichkeit der Dinge, der
somata
griechischer Mathematiker, Physiker und Dichter, die sie auflöst, zerstört, um das Geheimnis ihres Wesens zu finden. Es ist ein wahrer Bildersturm wie jener des Islam und der byzantinischen Bogumilen. Ein tiefer Unglaube an die greifbare Gestalt, in welcher die Natur erscheint, die Gestalt, welche den Griechen heilig war, offenbart sich. Der Streit um die Person Christi auf allen frühen Konzilen, der zu den nestorianischen und monophysitischen Spaltungen führte, ist ein
alchimistisches Problem.
Es wäre keinem antiken Physiker eingefallen, die Dinge zu erforschen, indem er ihre anschauliche Form verneinte oder vernichtete. Es gibt deshalb keine antike Chemie, so wenig es eine antike Theorie von der Substanz Apollos statt von seinen Erscheinungsweisen gab.
Die chemische Methode arabischen Stils ist das Zeichen eines neuen Weltbewußtseins. Ihre Erfindung knüpft sich an den Namen jenes rätselhaften Hermes Trismegistos, der in Alexandria
gleichzeitig mit Plotin und Diophant,
dem Begründer der Algebra, gelebt haben soll. Mit einem Schlage ist die mechanische Statik, die apollinische Naturwissenschaft zu Ende. Und wieder gleichzeitig mit der endgültigen Emanzipation der faustischen Mathematik durch Newton und Leibniz befreite sich auch die abendländische Chemie [Die während der gotischen Jahrhunderte trotz dem spanischen
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