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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Naturforschung hat Religion; die moderne Mechanik ist Stück für Stück ein Nachbild gläubigen Schauens.
    Das Vorurteil des mit Thales und Bacon auf die Höhe der Ionik und des Barock gelangten
städtischen
Menschen bringt die kritische Wissenschaft in einen hochmütigen Gegensatz zur frühen Religion des noch stadtlosen Landes, als die überlegene Stellung zu den Dingen, im Alleinbesitz der wahren Erkenntnismethoden und damit berechtigt, die Religion selbst empirisch und psychologisch zu erklären, sie »zu überwinden«. Nun zeigt die Geschichte der hohen Kulturen, daß »Wissenschaft« ein spätes und vorübergehendes Schauspiel ist, [Vgl. Bd. II, S. 927 f.] dem Herbst und Winter dieser großen Lebensläufe angehörend, im antiken wie im indischen, chinesischen und arabischen Denken von der Lebensdauer weniger Jahrhunderte, innerhalb deren sich ihre Möglichkeiten erschöpfen. Die antike Wissenschaft ist zwischen den Schlachten von Cannä und Actium erloschen und hat wieder dem Weltbilde der »zweiten Religiosität« [Vgl. Bd. II, S. 941 ff.] Platz gemacht. Danach ist es möglich vorauszusehen, wann das abendländische Naturdenken die Grenze seiner Entwicklung erreichen wird.
    Nichts berechtigt dazu, dieser geistigen Formenwelt den Vorrang vor andern zu geben. Jede kritische Wissenschaft beruht wie jeder Mythos, jeder religiöse Glaube überhaupt auf einer inneren Gewißheit; ihre Bildungen sind von anderm Bau und Klang, ohne grundsätzlich verschieden zu sein. Alle Einwände, welche die Naturwissenschaft gegen die Religion richtet, treffen sie selbst. Es ist ein großes Vorurteil, jemals an Stelle »anthropomorpher« Vorstellungen »die Wahrheit« setzen zu können. Andre als solche Vorstellungen gibt es überhaupt nicht. In jeder, die überhaupt möglich ist, spiegelt sich das Dasein ihres Urhebers. »Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde« – so gewiß das von jeder geschichtlichen Religion gilt, so gewiß gilt es von jeder physikalischen, vermeintlich noch so gut begründeten Theorie. Die Natur des Lichtes haben antike Forscher sich so vorgestellt, daß es aus körperlichen Abbildern besteht, die von der Lichtquelle zum Auge gehen. Für das arabische Denken, ohne Zweifel schon an den persisch-jüdischen Hochschulen von Edessa, Resain und Pumbadita, und für Porphyrios unmittelbar bezeugt, werden die Farben und Formen der Dinge in magischer (»geistiger«) Weise der substanziell vorgestellten Sehkraft, die in den Augäpfeln ruht, zugeführt. So haben Ibn al Haitam, Avicenna und die »Lauteren Brüder« gelehrt. [E. Wiedemann, Über die Naturwiss. bei den Arabern (1890). F. Strunz, Gesch. der Naturwiss. im Mittelalter (1910), S. 58 f.] Daß das Licht eine Kraft –
impetus
– ist, war schon um 1300 die Vorstellung des Pariser Occamistenkreises um Buridan, Albert von Sachsen und den Erfinder der Koordinatengeometrie, Nicolas von Oresme. [P. Duhem, Études sur Léonard de Vinci, 3. Reihe (1913).] Jede Kultur hat sich eine eigne Gruppe von Bildern der Vorgänge geschaffen, die für sie allein wahr ist und es nur so lange bleibt, als die Kultur lebendig und im Verwirklichen ihrer innern Möglichkeiten begriffen ist. Ist eine Kultur zu Ende und damit das schöpferische Element, die Bildkraft, die Symbolik erloschen, so bleiben »leere« Formeln, Gerippe von toten Systemen übrig, die von den Menschen fremder Kulturen ganz buchstäblich als sinnlos und wertlos empfunden, mechanisch beibehalten oder verachtet und vergessen werden. Zahlen, Formeln, Gesetze
bedeuten
nichts und
sind
nichts. Sie müssen einen Leib haben, den ihnen nur ein
lebendes
Menschentum verleiht, indem es in ihnen und durch sie lebt, sich zum Ausdruck bringt, sie innerlich in Besitz nimmt. Und deshalb gibt es keine absolute Physik, nur einzelne, auftauchende und schwimmende Physiken innerhalb einzelner Kulturen.
    Die »Natur« des antiken Menschen fand ihr höchstes künstlerisches Sinnbild in der nackten Statue; aus ihr erwuchs folgerichtig eine
Statik von Körpern
, eine
Physik der Nähe.
Zur arabischen Kultur gehört die Arabeske und die höhlenhafte Wölbung der Moschee; aus diesem Weltgefühl ist die
Alchymie
entstanden mit der Vorstellung von geheimnisvoll wirkenden Substanzen wie dem »Merkur der Philosophen«, der weder ein Stoff ist noch eine Eigenschaft, sondern etwas, das in magischer Weise dem farbigen Dasein von Metallen zugrunde liegt und ihre Verwandlung ineinander bewirken kann. [M. Berthelot, Die Chemie im Altertum und

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