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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Abstraktheit auf, eine Idee von Gott, deren Nachbildung zuletzt nur noch die Instrumentalmusik großen Stils gewachsen ist, während die Malerei des 18. Jahrhunderts versagt und in den Hintergrund tritt. Dies Gefühl von Gott hat das naturwissenschaftliche Weltbild des Abendlandes, unsere Natur, unsere »Erfahrung« und mithin unsere Theorien und Methoden im Gegensatz zu denen des antiken Menschen gestaltet. Die Kraft, welche die Masse bewegt: das ist es, was Michelangelo an die Decke der Sixtinischen Kapelle gemalt hat, was seit dem Vorbilde von Il Gesù die Domfassaden zu dem gewaltsamen Ausdruck bei Della Porta und Maderna und seit Heinrich Schütz zu den verklärten Tonwelten der Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts gesteigert hat, was als Weltgeschehen in Shakespeares Tragödien die ins Unendliche erweiterte Szene füllt und was endlich Galilei und Newton in Formeln und Begriffe gebannt haben.
    Das Wort Gottes klingt anders unter den Wölbungen gotischer Dome und in den Klosterhöfen von Maulbronn und Sankt Gallen als in den Basiliken Syriens und den Tempeln des republikanischen Roms. In dem Wälderhaften der Dome, der mächtigen Erhöhung des Mittelschiffs über die Seitenschiffe gegenüber der flachgedeckten Basilika, in der Verwandlung der Säulen, die durch Basis und Kapitäl als abgeschlossene Einzeldinge in den Raum gestellt waren, zu Pfeilern und Pfeilerbündeln, die aus dem Boden wachsen und deren Äste und Linien sich über dem Scheitel im Unendlichen verteilen und verschlingen, während von den Riesenfenstern, welche die Wand aufgelöst haben, ein ungewisses Licht durch den Raum flutet, liegt die architektonische Verwirklichung eines Weltgefühls, das im Hochwald der nordischen Ebenen sein ursprünglichstes Symbol gefunden hatte. Und zwar im Laubwalde mit dem geheimnisvollen Gewirr seiner Äste und dem Raunen der ewig bewegten Blättermassen über dem Haupte des Betrachters, hoch über der Erde, von der die Wipfel durch den Stamm sich zu lösen versuchen. Man denke wieder an die romanische Ornamentik und ihre tiefe Beziehung zum Sinn der Wälder. Der unendliche, einsame, dämmernde Wald ist die geheime Sehnsucht aller abendländischen Bauformen geblieben. Deshalb löst sich, sobald die Formenergie des Stils ermattet, in der späten Gotik ganz ebenso wie im ausgehenden Barock, die beherrschte abstrakte Liniensprache wieder unmittelbar in naturalistisches Astwerk, Ranken, Zweige und Blätter auf.
    Die Zypresse und Pinie wirken körperhaft, euklidisch; sie hätten niemals Symbole des unendlichen Raumes werden können. Die Eiche, Buche und Linde mit den irrenden Lichtflecken in ihren schattenerfüllten Räumen wirken körperlos, grenzenlos, geistig. Der Stamm einer Zypresse findet in der klaren Säule ihrer Nadelmasse den vollkommenen Abschluß seiner senkrechten Tendenz; der einer Eiche wirkt wie ein unerfülltes rastloses Streben über den Wipfel hinaus. In der Esche scheint der Sieg der aufstrebenden Äste über den Zusammenhalt der Krone eben zu gelingen. Ihr Anblick hat etwas Aufgelöstes, den Anschein einer freien Verbreitung im Raum, und vielleicht wurde die Weltesche deshalb ein Symbol der nordischen Mythologie. Das Waldesrauschen, dessen Zauber kein antiker Dichter je empfunden hat, das jenseits aller Möglichkeiten des apollinischen Naturgefühls liegt, steht mit seiner geheimen Frage nach dem Woher und Wohin, seinem Versinken des Augenblicks im Ewigen in einer tiefen Beziehung zum Schicksal, zum Gefühl für Geschichte und Dauer, zur faustischen schwermütig-sorgenvollen Richtung der Seele in eine unendlich ferne Zukunft. Deshalb wurde die Orgel, deren tiefes und helles Brausen unsere Kirchen füllt, deren Klang im Gegensatz zum klaren, pastosen Ton der antiken Lyra und Flöte etwas Grenzenloses und Ungemessenes besitzt, das Organ der abendländischen Andacht. Dom und Orgel bilden eine symbolische Einheit wie Tempel und Statue. Die Geschichte des Orgelbaus, eines der tiefinnigsten und rührendsten Kapitel unserer Musikgeschichte, ist eine Geschichte der Sehnsucht nach dem Walde, nach der Sprache dieses eigentlichen Tempels der abendländischen Gottesverehrung. Von dem Versklang Wolframs von Eschenbach bis zur Musik des Tristan ist diese Sehnsucht unveränderlich fruchtbar geblieben. Das Streben des Orchesterklanges im 18. Jahrhundert ging unablässig dahin, dem Orgelklang immer verwandter zu werden. Das Wort »schwebend«, sinnlos antiken Dingen gegenüber, ist gleich wichtig in der Theorie der

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