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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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folgte notwendig die einer zugehörigen Masse, des Lichtäthers. Eine Definition der Masse folgt mit allen ihr zugeschriebenen Eigenschaften aus derjenigen einer Kraft, nicht umgekehrt – und zwar mit der Notwendigkeit eines Symbols. Alle antiken Substanzbegriffe, sie mögen noch so verschieden, idealistisch oder realistisch gefaßt sein, bezeichnen
das zu Gestaltende
, eine Verneinung also, die ihre näheren Bestimmungen in jedem Fall aus dem Grundbegriff der Gestalt herübernehmen muß. Alle abendländischen Substanzbegriffe bezeichnen
das zu Bewegende,
ohne Zweifel ebenfalls eine Verneinung, aber die einer andern Einheit.
Gestalt und Ungestalt, Kraft und Nichtkraft
– so wird die dem Welteindruck beider Kulturen zugrunde liegende und seine Formen restlos erschöpfende Polarität am deutlichsten wiederzugeben sein. Was die vergleichende Philosophie bis jetzt ungenau und verwirrend mit dem einen Worte Stoff wiedergab, bedeutet im einen Fall das Substrat der Gestalt, im andern das der Kraft. Es gibt nichts Verschiedeneres. Hier spricht das Gefühl von Gott, ein
Wertgefühl
. Die antike Gottheit ist höchste Gestalt, die faustische höchste Kraft. Das »andre« ist das Ungöttliche, dem die Würde des Seins vom Geiste nicht zugesprochen werden kann. Ungöttlich ist dem apollinischen Weltgefühl die gestaltlose, dem faustischen also die kraftlose Substanz.
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    Es ist ein wissenschaftliches Vorurteil, daß Mythen und Göttervorstellungen eine Schöpfung des primitiven Menschen seien und daß »mit fortschreitender Kultur« der Seele die mythenbildende Kraft verloren gehe. Das Gegenteil ist der Fall. Wäre nicht die Morphologie der Geschichte bis zum heutigen Tag eine kaum entdeckte Welt von Problemen geblieben, so hätte man längst die vermeintlich allgemein verbreitete mythische Gestaltungskraft auf einzelne Zeitalter beschränkt gefunden und endlich begriffen, daß diese Kraft einer Seele, ihre Welt mit Gestalten, Zügen und Symbolen,
und zwar
von einheitlichem Charakter
, zu erfüllen, gerade nicht dem Weltalter der primitiven, sondern allein den Frühzeiten der
großen
Kulturen [Über die Zeitalter der primitiven und der hohen Kulturen vgl. Bd. II, S. 593 ff.] angehört. Jeder Mythos großen Stils steht am Anfang eines erwachenden Seelentums. Er ist seine erste gestaltende Tat. Man findet ihn nur dort und nirgends anders, dort aber auch mit Notwendigkeit.
    Ich setze voraus, daß das, was Urvölker, wie die Ägypter der Thinitenzeit, die Juden und Perser vor Kyros, [Vgl. Bd. II, S. 862.] die Helden der mykenischen Burgen und die Germanen der Völkerwanderung [Vgl. Bd. II, S. 896 f.] an religiösen Vorstellungen besaßen, noch kein höherer Mythos war, das heißt, wohl eine Summe zerstreuter und regellos wechselnder Züge, an Namen haftender Kulte, fragmentarischer Sagenbildungen, aber noch keine Götter
ordnung
, kein mythischer
Organismus
, kein geschlossenes Weltbild von einheitlicher Physiognomie, so wenig ich die Ornamentik dieser Stufe eine Kunst nenne. Übrigens sind die größten Bedenken Symbolen und Sagen gegenüber angebracht, die heute oder auch seit Jahrhunderten unter scheinbar primitiven Völkern geläufig sind, nachdem seit Jahrtausenden keine Landschaft der Erde von der Einwirkung fremder Hochkulturen ganz unberührt geblieben ist.
    Es gibt deshalb so viele Formenwelten des großen Mythos, als es Kulturen, als es frühe Architekturen gibt. Was ihnen zeitlich vorausliegt, das Chaos unfertiger Gestaltenkreise, in das die moderne Mythenforschung sich ohne ein leitendes Prinzip verliert, kommt unter diesen Voraussetzungen nicht in Betracht; andrerseits zählen Bildungen dazu, von denen es noch niemand vermutet hat. In der homerischen Zeit (1100-800) [Vgl. Bd. II, S. 902 ff.] und der entsprechenden ritterlich-germanischen (900-1200), [Vgl. Bd. II, S. 911 ff.] den
epischen
Zeitaltern, nicht früher, nicht später, ist das große Weltbild einer neuen Religion entstanden. Ihnen entspricht in Indien die vedische und in Ägypten die Pyramidenzeit; man wird eines Tages entdecken, daß die ägyptische Mythologie in der Tat gerade während der dritten und vierten Dynastie zur Tiefe herangereift ist.
    Nur so ist der unermeßliche Reichtum religiös-intuitiver Schöpfungen zu verstehen, der die drei Jahrhunderte der deutschen Kaiserzeit füllt. Es ist die faustische Mythologie, die hier entstand. Man war bisher blind für den Umfang und die Einheit dieser Formenwelt, weil religiöse und gelehrte Vorurteile zu

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