Der Untergang des Abendlandes
Gottheit in seinem Weltbilde ist.
Die Grundgedanken dieser Physik standen fest, lange bevor der erste Physiker geboren wurde; sie lagen im frühesten religiösen Weltbewußtsein unserer Kultur.
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Damit offenbart sich nun auch der religiöse Ursprung des physikalischen Begriffs der
Notwendigkeit
. Es handelt sich um die mechanische Notwendigkeit in dem, was wir als Natur geistig besitzen, und man hat nicht zu vergessen, daß dieser Notwendigkeit eine andre, organische, schicksalhafte im Leben selbst zugrunde Hegt. Die letzte gestaltet, die erste schränkt ein; die eine folgt aus einer inneren Gewißheit, die andere aus Beweisen: das ist der Unterschied von tragischer und technischer, historischer und physikalischer Logik.
Innerhalb der von der Naturwissenschaft geforderten und vorausgesetzten Notwendigkeit, derjenigen von
Ursache und Wirkung
, bestehen nun weitere Unterschiede, die sich bis jetzt jeder Aufmerksamkeit entzogen haben. Es handelt sich hier um sehr schwierige Einsichten von unabsehbarer Bedeutung. Eine Naturerkenntnis ist die Funktion eines Erkennens von bestimmtem Stil, gleichviel wie dieser Zusammenhang von der Philosophie beschrieben wird. Eine Naturnotwendigkeit besitzt demnach den Stil des
zugehörigen
Geistes, und hier beginnen die historisch-morphologischen Unterschiede. Man kann eine strenge Notwendigkeit in der Natur erblicken, ohne daß sie sich in Naturgesetzen ausdrücken ließe. Das letztere, für uns selbstverständlich, für Menschen andrer Kulturen indessen durchaus nicht, setzt eine ganz besondere und für den faustischen Geist bezeichnende Form des Verstehens überhaupt und mithin auch des Naturerkennens voraus. An sich liegt die Möglichkeit vor, daß die mechanische Notwendigkeit eine Fassung annimmt, in der jeder einzelne Fall morphologisch für sich besteht, keiner sich exakt wiederholt und Erkenntnisse also nicht die Gestalt dauernd gültiger Formeln erhalten können. Es würde da die Natur in einem Bild erscheinen, das sich etwa nach Analogie unendlicher, aber nicht periodischer Dezimalbrüche im Unterschiede von rein periodischen vorstellen ließe. So hat ohne Zweifel die Antike empfunden. Das Gefühl davon liegt deutlich ihren physikalischen Urbegriffen zugrunde. Die Eigenbewegung der Atome bei Demokrit z. B. erscheint so, daß eine Vorausberechnung von Bewegungen ausgeschlossen ist.
Naturgesetze sind Formen des Erkannten, in welchen ein Inbegriff von Einzelfällen sich zu einer Einheit höheren Grades zusammenschließt. Von der lebendigen Zeit wird abgesehen, das heißt: es ist gleichgültig, ob, wann und wie oft der Fall eintritt, und es handelt sich nicht um das chronologische
Nach
einander von Ereignissen, sondern um das mathematische
Aus
einander. [Vgl. Bd. I, S. 156,197 f.] Aber in dem Bewußtsein, daß keine Macht der Welt diese Berechnung erschüttern kann, liegt unser Wille zur Herrschaft über die Natur. Das ist faustisch. Erst von diesem Aspekt aus erscheint das Wunder als eine Durchbrechung von Naturgesetzen. Der magische Mensch erblickt im Wunder nur den Besitz einer Macht, die nicht jeder hat, ohne daß sie der »Natur« widerspricht. Und der antike Mensch war, nach Protagoras, nur das Maß, nicht der Schöpfer der Dinge. Damit verzichtet er unbewußt auf die Überwältigung der Natur durch Entdeckung und Anwendung von Gesetzen.
Hier zeigt sich, daß das Kausalitätsprinzip in der Form, wie sie für uns selbstverständlich und notwendig ist, wie sie von der Mathematik, Physik und Erkenntniskritik übereinstimmend als Grundwahrheit behandelt wird, eine abendländische, genauer eine Barockerscheinung ist. Sie kann nicht bewiesen werden, denn jeder Beweis in einer abendländischen Sprache und jede Erfahrung eines abendländischen Geistes setzt sie schon voraus. Jede Problem
stellung
enthält schon die zugehörige Lösung. Die Methode einer Wissenschaft ist die Wissenschaft selbst. Es ist kein Zweifel, daß im Begriff des Natur
gesetzes
und in der seit Roger Bacon bestehenden Auffassung der Physik als einer
scientia experimentalis
[Vgl. Bd. II, S. 928.] diese besondere Art von Notwendigkeit schon enthalten ist. Die antike Art, die Natur zu sehen – das
alter ego
der antiken Art zu
sein
–, enthält sie aber
nicht
, ohne daß dadurch eine logische Schwäche in den naturwissenschaftlichen Feststellungen zum Vorschein käme. Denkt man die Aussagen des Demokrit, Anaxagoras und Aristoteles, in denen die ganze Summe antiker Naturanschauungen enthalten ist, genau durch,
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