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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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einer fragmentarischen Behandlung entweder der katholischen oder der nordisch-heidnischen Bestandteile drängten. Aber es besteht hier kein Unterschied. Der tiefe Bedeutungswandel innerhalb der christlichen Vorstellungskreise ist als schöpferischer Akt identisch mit der Zusammenfassung altheidnischer Kulte der Wanderzeit zu einem Ganzen. Es gehören hierher die sämtlichen westeuropäischen Volkssagen, die damals ihre symbolische Durchbildung erhalten haben, mögen sie auch der Substanz nach viel früher entstanden und viel später noch an neue äußere Erlebnisse angeknüpft und durch bewußtere Züge bereichert worden sein. Es gehören dazu die großen, in der Edda erhaltenen Göttersagen und eine Anzahl Motive aus den Evangeliendichtungen gelehrter Mönche. Dazu kommt die deutsche Heldensage des Siegfried-, Gudrun-, Dietrich-, Wielandkreises mit ihrem Gipfel im Nibelungenlied und neben ihr die ungeheuer reiche, aus altkeltischen Märchen abgeleitete und auf französischem Boden eben damals vollendete Rittersage: vom König Artus und der Tafelrunde, vom heiligen Gral, von Tristan, Parzival und Roland. Und endlich ist außer der unvermerkten, aber um so tieferen seelischen Umdeutung aller Züge der Passionsgeschichte der ganze Reichtum der katholischen Heiligenlegende hinzuzurechnen, deren Blütezeit das 10. und 11. Jahrhundert füllt. Damals sind die Marienleben, die Geschichten des hl. Rochus, Sebald, Severin, Franz, Bernhard und der Odilia entstanden. Um 1250 wurde die Legenda aurea verfaßt; es war die Blütezeit der höfischen Epik und der isländischen Skaldenpoesie. Den großen Walhallgöttern im Norden entsprechen die »vierzehn Nothelfer«, die gleichzeitig im südlichen Deutschland als mythische Gruppe zusammengefaßt worden sind. Neben der Schilderung von Ragnarök, der Götterdämmerung, in der Völuspa steht eine christliche Fassung in den süddeutschen Muspilli. Dieser große Mythos entwickelt sich wie die Heldendichtung auf den Höhen der frühen Menschlichkeit. Beide gehören den Urständen an, Adel oder Priestertum. Sie sind in Burg und Dom zu Hause, nicht im Dorf. Hier unten im Volk läuft eine schlichte Sagenwelt daneben durch die Jahrhunderte, als Märchen, Volks- und Aberglaube bezeichnet und doch von den Welten des hohen Schauens nicht zu trennen. [Vgl. Bd. II, S. 900 f., 904.]
    Nichts ist für den letzten Sinn dieser religiösen Schöpfungen bezeichnender als die Tatsache, daß Walhall nicht altgermanischen Ursprungs ist und den Stämmen der Völkerwanderung noch gar nicht bekannt war, sondern daß es erst jetzt und mit einem Schlage, aus innerster Notwendigkeit im Bewußtsein der auf dem Boden des Abendlandes neu entstandenen Völker sich bildete, »gleichzeitig« also mit dem Olymp, den wir aus der homerischen Epik kennen und der ebensowenig mykenischer Herkunft ist. Und zwar ist Walhall nur im Weltbild der beiden hohen Stände aus der Vorstellung von Hel emporgewachsen; im Volksglauben blieb Hel das Totenreich. [E. Mogk, German. Mythol., Grundr. d. germ. Philol. III (1900), S. 340.]
    Man hat die tiefinnerliche Einheit dieser faustischen Mythen- und Sagenwelt und die vollkommen einheitliche Symbolik ihrer Formensprache bis jetzt nicht beachtet. Aber Siegfried, Baldur, Roland, der Heliand sind verschiedene Namen für ein und dieselbe Gestalt. Walhall und die Gefilde der Seligen Avalun, König Artus' Tafelrunde und das Mahl der Einherier, Maria, Frigga und Frau Holle bedeuten das gleiche. Demgegenüber ist die äußere Abstammung der stofflichen Motive und Elemente, auf welche die Mythenforschung ein Übermaß von Eifer verwendet hat, lediglich ein Zug der historischen Oberfläche und ohne tiefere Bedeutung. Für den Sinn eines Mythos beweist seine Herkunft
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selbst, die Urgestalt des Weltgefühls, ist reine, wahllose und unbewußte Schöpfung und unübertragbar. Was ein Volk durch Bekehrung oder bewundernde Nachahmung von einem anderen erhält, ist Name, Kleid und Maske für ein eignes Gefühl, niemals das Gefühl selbst. Man hat die altkeltischen und altgermanischen Mythenmotive so gut wie den durch gelehrte Mönche bewahrten Formenschatz des antiken und den durch die abendländische Kirche vollständig übernommenen des gesamten christlich-morgenländischen Glaubens lediglich als den Stoff zu betrachten, aus dem die faustische Seele in diesen Jahrhunderten eine eigne mythische Architektur erschuf. Es ist auf dieser Stufe eines eben erwachenden Seelentums ganz belanglos, ob

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