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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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prüft man vor allem den Gehalt von so entscheidenden Begriffen wie ἀλλοίωσις, ἀνάγκη oder ἐντελέχεια, so sieht man mit Erstaunen in ein völlig anders geartetes, in sich geschlossenes und also für eine bestimmte Art Mensch unbedingt wahres Weltbild, in dem von Kausalität in unserem Sinne nicht die Rede ist.
    Der Alchimist und Philosoph der arabischen Kultur setzt ebenso eine tiefe Notwendigkeit innerhalb der Welthöhle voraus, die von dynamischer Kausalität ganz und gar verschieden ist. Es gibt keinen Kausalnexus von gesetzmäßiger Form, sondern nur eine Ursache, Gott, die jeder Wirkung
unmittelbar
zugrunde liegt. An Naturgesetze glauben, hieße an Gottes Allmacht zweifeln. Wenn der Anschein einer Regel entsteht, so hat es Gott so gefallen; wer aber diese Regel für notwendig hält, den hat der Böse in Versuchung geführt. Genau so haben Karneades, Plotin und die Neupythagoräer empfunden, [J. Goldziber, Die islam. und jüd. Philosophie (Kultur der Gegenwart I, V, 1913), S. 306 f.] und
diese
Notwendigkeit liegt den Evangelien wie dem Talmud und Awesta zugrunde. Auf ihr beruht die Technik der Alchymie.
    Die Zahl als Funktion steht mit dem
dynamischen
Prinzip von Ursache und Wirkung in Beziehung. Beide sind Schöpfungen desselben Geistes, Ausdrucksformen desselben Seelentums, bildende Grundlagen derselben objektgewordnen Natur. In der Tat unterscheidet sich die Physik Demokrits von derjenigen Newtons, indem die eine das optisch Gegebene, die andere die aus ihm sich entwickelnden abstrakten Beziehungen zum Ausgangspunkt wählt. Die »Tatsachen« der apollinischen Naturerkenntnis sind
Dinge
, und liegen an der Oberfläche des Erkannten; die »Tatsachen« der faustischen Naturerkenntnis sind
Beziehungen
, die dem Auge des Laien überhaupt nicht zugänglich sind, die geistig erst erobert sein wollen und endlich zu ihrer Mitteilung einer Geheimsprache bedürfen, die nur dem Kenner der Naturwissenschaft vollkommen verständlich ist. Die antike statische Notwendigkeit liegt in den wechselnden Erscheinungen unmittelbar zutage; das dynamische Kausalprinzip waltet jenseits der Dinge, indem es ihre sinnliche Tatsächlichkeit abschwächt oder aufhebt. Man frage sich, welche Bedeutung sich unter Voraussetzung der gesamten heutigen Theorie mit dem Ausdruck »ein Magnet« verbindet.
    Das Prinzip der Erhaltung der Energie, das man seit seiner Aufstellung durch J. R. Mayer in vollem Ernst als eine bloße Denknotwendigkeit angesehen hat, ist in der Tat eine Umschreibung des
dynamischen
Kausalprinzips mittelst des physikalischen Begriffes der Kraft. Die Berufung auf »Erfahrung« und der Streit, ob eine Einsicht denknotwendig oder empirisch, ob sie also nach Kants Bezeichnung – der sich über die verschwimmende Grenze zwischen beiden sehr täuschte – a priori oder a posteriori gewiß sei, ist für die Anlage des abendländischen Denkens charakteristisch. Nichts erscheint uns selbstverständlicher und eindeutiger als »die Erfahrung« als Quelle der exakten Wissenschaft. Das Experiment faustischer Art, das auf Arbeitshypothesen beruht und sich messender Methoden bedient, ist nichts als die systematische und erschöpfende Handhabung dieser Erfahrung. Aber man hat nie bemerkt, daß ein solcher Begriff der Erfahrung mit seinem dynamischen und angreifenden Gehalt eine ganze Weltanschauung einschließt, und daß es Erfahrung in diesem prägnanten Sinne für den Menschen fremder Kulturen nicht gibt und nicht geben kann. Wenn wir uns weigern, die wissenschaftlichen Resultate des Anaxagoras oder Demokrit als Ergebnisse echter Erfahrung anzuerkennen, so heißt das nicht, daß diese antiken Menschen sich auf die Interpretation ihrer Anschauungen nicht verstanden, daß sie bloße Phantasien entworfen hätten, sondern daß wir in ihren Verallgemeinerungen dasjenige kausale Element vermissen, das
für uns
den Sinn des Wortes Erfahrung erst ausmacht. Offenbar hat man nie genügend über die Besonderheit dieses rein faustischen Begriffes nachgedacht. Nicht der an der Oberfläche liegende Gegensatz zum Glauben ist für ihn bezeichnend. Die exakte sinnlich-geistige Erfahrung ist im Gegenteil ihrer Struktur nach dem vollkommen kongruent, was tief religiöse Naturen des Abendlandes, Pascal zum Beispiel, der Mathematiker
und
Jansenist aus der
gleichen
inneren Notwendigkeit war, wohl als Erfahrung des Herzens, als Erleuchtung in bedeutenden Momenten ihres Daseins kennen gelernt haben. Erfahrung bezeichnet uns

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