Der Untergang des Abendlandes
Musik, in der Ölmalerei, der Architektur, der dynamischen Physik des Barock. Wenn man in einem hohen Walde mächtiger Stämme steht und den Sturm über sich wühlen hört, begreift man plötzlich den Sinn des Gedankens von der Kraft, welche die Masse bewegt.
So entsteht aus dem Urgefühl des nachdenklich gewordnen Daseins eine immer bestimmtere Vorstellung des Göttlichen rings in der Außenwelt. Der Erkennende empfängt den Eindruck einer Bewegung in der äußeren Natur. Er fühlt um sich ein schwer zu beschreibendes fremdes Leben unbekannter Mächte. Er führt den Ursprung dieser Wirkungen auf numina zurück, auf das »andre«, insofern es ebenfalls Leben besitzt. Aus dem Staunen über die fremde Bewegung entspringen Religion und Physik. Sie enthalten die Deutung der Natur oder des Bildes der Umwelt hier durch die Seele, dort durch den Verstand. Die »Mächte« sind zugleich erster Gegenstand der fürchtenden oder liebenden Verehrung und der kritischen Forschung. Es gibt eine religiöse und eine wissenschaftliche Erfahrung.
Nun beachte man wohl, auf welche Weise das Bewußtsein der einzelnen Kulturen die ursprünglichen numina geistig verdichtet. Es belegt sie mit bedeutungsvollen Worten, mit Namen, und bannt – begreift, begrenzt – sie auf diese Art. Damit unterliegen sie der geistigen Macht des Menschen, der den Namen in seiner Gewalt hat. Und es war schon gesagt worden, daß die ganze Philosophie, die ganze Naturwissenschaft, alles, was zum »Erkennen« in irgendeiner Beziehung steht, im tiefsten Grunde nichts ist als die unendlich verfeinerte Art, den Namenzauber des primitiven Menschen auf das »Fremde« anzuwenden. Das Aussprechen des richtigen Namens (in der Physik: des richtigen Begriffes) ist eine Beschwörung. So entstehen Gottheiten und wissenschaftliche Grundbegriffe zuerst als Namen, die man anruft und an die sich eine sinnlich immer bestimmtere Vorstellung knüpft. Aus dem numen wird ein deus, aus dem Begriff eine Vorstellung. Was für ein befreiender Zauber liegt für die Mehrzahl der gelehrten Menschen in der bloßen Nennung solcher Worte wie »Ding an sich«, »Atom«, »Energie«, »Schwerkraft«, »Ursache«, »Entwicklung«! Es ist der gleiche, der den latinischen Bauern bei den Worten Ceres, Consus, Janus, Vesta ergriff. [Und man darf behaupten, daß der handfeste Glaube, den z. B. Haeckel mit dem Namen Atom, Materie, Energie verband, von dem Fetischismus des Neandertalmenschen nicht wesentlich verschieden war.]
Für das antike Weltgefühl war, dem apollinischen Tiefenerlebnis und dessen Symbolik entsprechend, der einzelne Körper das Sein. Folgerichtig empfand man dessen im Licht sich darbietende Gestalt als das Wesenhafte, als den eigentlichen Sinn des Wortes »Sein«. Was nicht Gestalt hat, Gestalt ist, ist überhaupt nicht. Von diesem Grundgefühl aus, das man sich nicht mächtig genug denken kann, schuf der antike Geist als Gegenbegriff [Vgl. Bd. I, S. 165.] zur Gestalt »das andre«, die Ungestalt, den Stoff, die αρχη oder υλη das, was an sich kein Sein besitzt und lediglich als Komplement zum wirklich Seienden eine ergänzende, sekundäre Notwendigkeit darstellt. Man begreift, wie die antike Götterwelt sich bilden mußte. Sie ist neben dem Menschen eine höhere Menschlichkeit; es sind vollkommener gestaltete Körper, erhabenste Möglichkeiten leibhaft-gegenwärtiger Form – im Unwesentlichen, dem Stoffe nach, nicht unterschieden, mithin derselben kosmischen und tragischen Notwendigkeit unterworfen.
Das faustische Weltgefühl aber erlebte die Tiefe anders. Hier erscheint als Inbegriff des wahren Seins der reine wirkende Raum. Er ist
das
Sein schlechthin. Deshalb wirkt das sinnlich Empfundene, das mit einer bezeichnenden Wendung, die ihm den Rang anweist, das Raumerfüllende genannt wird, als Tatsache zweiter Ordnung und im Hinblick auf den Akt des Naturerkennens als das Fragwürdige, als Schein und als Widerstand, der überwunden werden muß, wenn man als Philosoph oder Physiker den eigentlichen Gehalt des Seins erschließen will. Die abendländische Skepsis hat sich niemals gegen den Raum, immer nur gegen die greifbaren Dinge gewandt. Raum ist der
höhere
Begriff – Kraft ist nur ein weniger abstrakter Ausdruck dafür – und erst als sein Gegenbegriff erscheint die Masse, das, was
im
Raume ist. Sie ist logisch wie physikalisch von ihm abhängig.
Der Annahme einer Wellenbewegung des Lichtes, welcher die Auffassung des Lichtes als einer Energieform zugrunde liegt,
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