Der Untergang des Abendlandes
eine
Aktivität
des Geistes, die sich nicht auf die augenblicklichen und rein gegenwärtigen Eindrücke beschränkt, sie als solche hinnimmt, anerkennt, ordnet, sondern sie aufsucht und hervorruft, um sie in ihrer sinnlichen Gegenwart zu überwinden, sie in eine grenzenlose Einheit zu bringen, durch welche ihre handgreifliche Vereinzelung aufgelöst wird. Was wir Erfahrung nennen, besitzt die Tendenz
vom Einzelnen zum Unendlichen.
Eben deshalb widerspricht sie dem antiken Naturgefühl. Unser Weg, Erfahrung zu gewinnen, ist für den Griechen der Weg, sie zu verlieren. Deshalb bleibt er der gewaltsamen Methode des Experiments fern. Deshalb besaß er unter dem Namen einer Physik statt eines mächtigen Systems erarbeiteter abstrakter Gesetze und Formeln, das die sinnliche Gegebenheit vergewaltigt und unterwirft – nur dies Wissen ist Macht! –, eine Summe wohlgeordneter, durch Bilder sinnlich verstärkter, nicht etwa aufgelöster Eindrücke, welche die Natur in ihrem in sich vollendeten Dasein unberührt ließ. Unsre exakte Naturwissenschaft ist imperativisch, die antike ist θεωρία im buchstäblichen Sinne, das Ergebnis passiver Beschaulichkeit.
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Es ist nun kein Zweifel mehr: die Formenwelt einer Naturwissenschaft entspricht vollkommen den
zugehörigen
der Mathematik, der Religion und der bildenden Kunst. Ein tiefer Mathematiker – nicht ein meisterhafter Rechner, sondern jemand, der den Geist der Zahlen in sich lebendig fühlt – begreift, daß er damit »Gott kennt«. Pythagoras und Plato haben das so gut gewußt wie Pascal und Leibniz. Terentius Varro in seinen Cäsar gewidmeten Untersuchungen über die altrömische Religion unterscheidet mit römischer Prägnanz die
theologia civilis
, die Summe des öffentlich anerkannten Glaubens, von der
theologia mythica
, der Vorstellungswelt der Dichter und Künstler, und der
theologia physica
, der philosophischen Spekulation. Wendet man dies auf die faustische Kultur an, so gehört zur ersten, was Thomas von Aquino und Luther, Calvin und Loyola lehren, zur zweiten Dante und Goethe, zur dritten aber die wissenschaftliche Physik, soweit sie ihren Formeln Bilder unterlegt.
Nicht nur der Urmensch und das Kind, sondern auch höhere Tiere entwickeln ganz von selbst aus den kleinen Erfahrungen des Alltags ein Bild der Natur, das die Summe technischer Kennzeichen enthält, die sie sich als immer wiederkehrend gemerkt haben. Der Adler »weiß«, in welchem Augenblick er auf die Beute herabstürzen muß; der brütende Singvogel »erkennt« die Nähe eines Marders; das Wild »findet« den Futterplatz. Für den Menschen hat sich diese Erfahrung aller Sinne zu einer Erfahrung des Auges verengt und vertieft. Aber indem nun die Gewohnheit des Sprechens in Worten hinzutritt, wird vom Sehen das Verstehen abgezogen und als Denken selbständig fortgebildet: zur augenblicklich verstehenden
Technik
tritt die
Theorie
, welche ein Nach-denken darstellt. Die Technik richtet sich auf die sichtbare Nähe und Notdurft. Die Theorie wendet sich der Ferne zu und den Schauern des
Unsichtbaren
. Dem kleinen Wissen des Alltags setzt sie den Glauben zur Seite, und doch entwickelt sie wieder ein neues Wissen und eine neue Technik höherer Ordnung: zum Mythos tritt der Kultus. Jener lehrt die
numina kennen
, dieser sie
beschwören
. Denn die Theorie im erhabenen Sinne ist religiös durch und durch. Erst in ganz späten Zuständen entwickelt sich aus der religiösen die naturwissenschaftliche Theorie,
indem man sich der Methoden bewußt wird
. Abgesehen davon ändert sich wenig. Die Bilderwelt der Physik bleibt Mythos, ihr Verfahren bleibt ein die Mächte in den Dingen beschwörender Kultus, und die Art der Bilder und Verfahren bleibt abhängig von denen der zugehörigen Religion. [Vgl. Bd. II, S. 582 f.]
Seit den Tagen der Spätrenaissance wird die Vorstellung von Gott im Geist aller bedeutenden Menschen der Idee des reinen, unendlichen Raumes immer ähnlicher. Der Gott der Exercitia spiritualia des Ignaz von Loyola ist auch der des Lutherliedes »Ein feste Burg«, der Improperien Palestrinas und der Kantaten Bachs. Er ist nicht mehr der Vater des heiligen Franz von Assisi und der hochgewölbten Kathedralen, wie die Maler der Gotik, wie Giotto und Stephan Lochner ihn empfanden, persönlich gegenwärtig, fürsorglich und milde, sondern ein unpersönliches Prinzip, unvorstellbar, ungreifbar, geheimnisvoll im Unendlichen wirkend. Jeder Rest von Persönlichkeit löst sich in unanschaulicher
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