Der Untergang des Abendlandes
diejenigen, durch deren Geist und Mund dieser Mythos ins Leben tritt, »einzelne« Skalden, Missionare, Priester oder »das Volk« sind. Es ist für die innere Selbständigkeit des hier Entstandenen auch belanglos, daß die christlichen Vorstellungen die Formgebung entscheidend beherrscht haben.
Wir haben, jedesmal in der Frühzeit der antiken, arabischen und abendländischen Kultur, einen Mythos statischen, magischen, dynamischen Stils vor uns. Man prüfe jede Einzelheit der Form: wie dort eine Haltung, hier eine Tat, dort ein Sein, hier der Wille zugrunde liegen, wie in der Antike das leibhaft Greifbare, das sinnlich Gesättigte vorwaltet, das eben deshalb, was die Form der Verehrung anbelangt, seinen Schwerpunkt in einem sinnlich eindrucksvollen
Kultus
hat, während im Norden der Raum, die Kraft und mithin eine vorwiegend dogmatisch gefärbte Religiosität herrschen. Gerade in diesen frühesten Schöpfungen der jungen Seele tritt die Verwandtschaft zwischen den olympischen Gestalten, der attischen Statue und dem körperhaften dorischen Tempel, dann zwischen der überwölbten Kuppelbasilika, dem »Geist Gottes« und der Arabeske, endlich zwischen Walhall und dem Marienmythos, dem aufstrebenden Mittelschiff der Dome und der instrumentalen Musik hervor.
Die arabische Seele hat in den Jahrhunderten zwischen Cäsar und Konstantin ihren Mythos ausgebildet, jene phantastische Masse von Kulten, Visionen und Legenden, die noch heute kaum übersehbar ist, [Vgl. Bd. II, S. 799 ff., 863 ff.] synkretistische Kulte wie die der syrischen Baale, der Isis und des Mithras, der auf syrischem Boden völlig umgeschaffen wurde. Evangelien, Apostelgeschichten und Apokalypsen in erstaunlicher Zahl, die christlichen, persischen, jüdischen, neuplatonischen, manichäischen Legenden, die himmlischen Engel- und Geisterordnungen der Kirchenväter und Gnostiker. In der Leidensgeschichte der Evangelien,
dem eigentlichen Epos der christlichen Nation
, umgeben von der Kindheitsgeschichte und den Taten der Apostel, und in der gleichzeitig ausgebildeten Zarathustralegende erblicken wir die Heldengestalten der früharabischen Epik neben Achilles, Siegfried und Parzival. Die Szenen von Gethsemane und Golgatha stehen neben den erhabensten Bildern der hellenischen und germanischen Sage. Diese magischen Visionen erwuchsen fast ohne Ausnahme unter dem Eindruck der sterbenden Antike, die ihnen der Natur der Sache nach niemals den Gehalt, um so öfter die Form lieh. Es ist kaum zu überschätzen, wieviel Apollinisches umgedeutet werden mußte, bevor der altchristliche Mythos die feste Gestalt angenommen hatte, die er zur Zeit des Augustinus besaß.
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Der antike Polytheismus besitzt demnach einen Stil, der ihn von jeder andern, äußerlich noch so verwandten Fassung eines Weltgefühls streng abhebt. Diese Art, Götter, keine Gottheit zu besitzen, war nur einmal da, eben in der einzigen Kultur, welche die Statue des nackten Menschen als den Inbegriff aller Kunst empfand. Die Natur, wie sie der antike Mensch um sich fühlte und erkannte, eine Summe wohlgestalteter körperlicher Dinge, konnte in keiner andern Form vergöttlicht werden. Der Römer fand in dem Anspruch Jahwes, allein anerkannt zu werden, etwas Atheistisches.
Ein
Gott war für ihn kein Gott. Von hierher schreibt sich die starke Abneigung des gesamten griechisch-römischen Volksbewußtseins gegen die Philosophen, soweit sie Pantheisten, mithin gottlos waren. Götter sind Körper,
somata
der vollkommensten Art, und zum
soma
im mathematischen wie im physikalischen, rechtlichen und dichterischen Sprachgebrauch gehört die Vielzahl. Der Begriff πολιτιχον gilt auch von Göttern; nichts ist ihnen so fremd wie die Einsamkeit, das Allein- und Fürsichsein. Um so entschiedener haftet an ihrem Dasein das Merkmal einer beständigen
Nähe
. Es ist von höchster Bedeutung, daß gerade in Hellas die Gestirngötter, als
numina
der Ferne, fehlen. Helios hatte nur auf dem halb orientalischen Rhodos, Selene überhaupt keinen Kult. Beide sind lediglich, wie schon in der höfischen Poesie Homers, künstlerische Ausdrucksmittel, nach römischer Bezeichnung Elemente des
genus mythicum
, nicht des
genus civile
. Die altrömische Religion, in der das antike Weltgefühl in besonderer Reinheit zum Ausdruck kommt, kennt weder Sonne noch Mond, weder Sturm noch Wolken als Gottheiten. Waldesrauschen und Waldeinsamkeit, Gewitter und Meeresbrandung, die das Naturgefühl des faustischen Menschen, schon das des Kelten
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