Der Untergang des Abendlandes
nicht auf den Tod, sondern das Sterben-sehen. Wir suchen das Kosmische so zu begreifen, wie es dem Mikrokosmos im Makrokosmos erscheint, als das
Leben eines Leibes im Lichtraum
, zwischen Geburt und Tod, zwischen Zeugung und Verwesung, und mit jener Unterscheidung von Leib und Seele, die mit innerster Notwendigkeit aus dem Erlebnis des Innerlich-Eigenen als eines Sinnlich-Fremden folgt.
Daß wir nicht nur leben, sondern um das »Leben«
wissen
, ist das Ergebnis jener Betrachtung unseres leibhaften Wesens im Licht. Aber das Tier kennt nur das Leben, nicht den Tod. Wären wir rein pflanzenhafte Wesen, so würden wir sterben, ohne es je zu bemerken, denn den Tod fühlen und sterben wäre eins. Aber auch Tiere hören den Todesschrei, sie erblicken den Leichnam, sie wittern die Verwesung; sie sehen das Sterben, aber sie verstehen es nicht. Erst mit dem reinen Verstehen, das sich durch die Sprache vom Wachsein des Auges abgelöst hat, taucht für den Menschen der Tod rings in der Lichtwelt als das große Rätsel auf.
Erst von nun an ist Leben die kurze Spanne Zeit zwischen Geburt und Sterben. Erst im Hinblick auf den Tod wird uns die Zeugung zum anderen Geheimnis. Erst jetzt wird die Weltangst des Tieres zur menschlichen Angst vor dem Tode und
diese ist es
, welche die Liebe zwischen Mann und Weib, das Verhältnis der Mutter zum Sohn, die Reihe der Ahnen bis zu den Enkeln herab und darüber hinaus die Familie, das Volk und zuletzt die Geschichte der Menschen überhaupt als Fragen und Tatsachen des Schicksals von unermeßlicher Tiefe erstehen läßt. An den Tod, den jeder zum Licht geborene Mensch erleiden muß, knüpfen sich die Ideen von Schuld und Strafe, vom Dasein als einer Buße, von einem neuen Leben jenseits der belichteten Welt und von einer Erlösung, die aller Todesangst ein Ende macht. Erst aus der Erkenntnis des Todes stammt das, was wir Menschen im Unterschiede von den Tieren als Weltanschauung besitzen.
5
Es gibt geborene Schicksalsmenschen und Kausalitätsmenschen. Der eigentlich lebende Mensch, der Bauer und Krieger, der Staatsmann, Heerführer, Weltmann, Kaufmann, jeder, der reich werden, befehlen, herrschen, kämpfen, wagen will, der Organisator und Unternehmer, der Abenteurer, Fechter und Spieler, ist durch eine ganze Welt von dem »geistigen« Menschen getrennt, dem Heiligen, Priester, Gelehrten, Idealisten und Ideologen, mag dieser nun durch die Gewalt seines Denkens oder den Mangel an Blut dazu bestimmt sein. Dasein und Wachsein, Takt und Spannung, Triebe und Begriffe, die Organe des Kreislaufs und die des Tastens – es wird selten einen Menschen von Rang geben, bei dem nicht unbedingt die eine Seite die andre an Bedeutung überragt. Alles Triebhafte und Treibende, der Kennerblick für Menschen und Situationen, der Glaube an einen Stern, den jeder zum Handeln Berufene besitzt und der etwas ganz anderes ist als die Überzeugung von der Richtigkeit eines Standpunktes; die Stimme des Blutes, die Entscheidungen trifft, und das unerschütterlich gute Gewissen, das jedes Ziel und jedes Mittel rechtfertigt, das alles ist dem Betrachtenden versagt. Schon der Schritt des Tatsachenmenschen klingt anders, wurzelhafter, als der des Denkers und Träumers, in dem das rein Mikrokosmische kein festes Verhältnis zur Erde gewinnen kann.
Das Schicksal hat den einzelnen so oder so gemacht, grüblerisch und tatenscheu oder tätig und das Denken verachtend. Aber der Tätige ist ein
ganzer
Mensch; im Betrachtenden möchte ein einzelnes Organ ohne und gegen den Leib wirken. Um so schlimmer, wenn es auch die Wirklichkeit meistern will. Dann erhalten wir jene ethisch-politisch-sozialen Verbesserungsvorschläge, die sämtlich ganz unwiderleglich beweisen, wie es sein sollte und wie man es anfangen muß, Lehren, die ohne Ausnahme auf der Voraussetzung beruhen, daß alle Menschen so beschaffen sind wie die Verfasser, nämlich reich an Einfällen und arm an Trieben, vorausgesetzt, daß der Verfasser sich selbst kennt. Aber keine einzige dieser Lehren, und wenn sie mit der vollen Autorität einer Religion oder eines berühmten Namens auftrat, hat bis jetzt das Leben selbst im geringsten verändert. Sie ließen uns nur anders vom Leben
denken
. Gerade das ist ein Verhängnis später, viel schreibender und viel lesender Kulturen, daß der Gegensatz von Leben und Denken immer wieder verwechselt wird mit dem vom Denken über das Leben und Denken über das Denken. Alle Weltverbesserer, Priester und Philosophen sind einig in der
Weitere Kostenlose Bücher