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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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ein Wachsein
im Dienste
des Daseins. Das Tier »
lebt
« einfach, es denkt nicht nach über das Leben. Die unbedingte Herrschaft des Auges aber läßt das Leben als Leben eines sichtbaren Wesens im Licht erscheinen und das sprachgebundene Verstehen bildet alsbald einen
Begriff
des Denkens und als
Gegenbegriff
den des Lebens aus und unterscheidet endlich das Leben, wie es ist, von dem, wie es sein sollte. An Stelle des unbekümmerten Lebens erscheint der Gegensatz »Denken und Handeln«. Er ist nicht nur möglich, was er im Tiere nicht ist, er wird bald in jedem Menschen zur Tatsache und zuletzt zur
Alternative
; das hat die gesamte Geschichte des reifen Menschentums und alle ihre Erscheinungen gestaltet, und je höhere Formen eine Kultur annimmt, desto mehr beherrscht dieser Gegensatz gerade die bedeutenden Augenblicke ihres Wachseins.
    Das Pflanzenhaft-Kosmische, das schicksalhafte Dasein, das Blut, das Geschlecht besitzen die uralte Herrschaft und behalten sie. Sie
sind
das Leben. Das andre dient nur dem Leben. Aber das andere will nicht dienen. Es will herrschen und glaubt zu herrschen; es ist einer der entschiedensten Ansprüche des Menschengeistes, den Leib, die »Natur« in der Gewalt zu haben; es ist aber die Frage, ob dieser Glaube nicht selbst dem Leben dient. Warum denkt unser Denken so? Vielleicht weil das Kosmische, das »es«, es will? Das Denken beweist seine Macht, indem es den Leib eine Vorstellung nennt, seine Armseligkeit erkennt und die Stimme des Blutes zum Schweigen verweist. Das Blut aber herrscht wirklich, indem es schweigend die Tätigkeit des Denkens beginnen oder enden läßt. Auch das ist ein Unterschied zwischen Sprechen und Leben. Das Dasein kann des Wachseins, das Leben des Verstehens entbehren, nicht umgekehrt. Das Denken herrscht, trotz allem, nur im »Reich der Gedanken«.
3
    Es ist nur ein Unterschied in Worten, ob man das Denken als Schöpfung des Menschen oder den höheren Menschen als Schöpfung des Denkens betrachtet. Aber das Denken selbst wird seinen Rang innerhalb des Lebens stets falsch und viel zu hoch ansetzen, weil es andere Arten der Feststellung neben sich nicht bemerkt oder anerkennt und damit auf einen vorurteilslosen Überblick verzichtet. In der Tat haben sämtliche Denker von Beruf – und sie führen hier in allen Kulturen fast allein das Wort – kaltes, abstraktes Nachdenken für die selbstverständliche Tätigkeit gehalten, durch die man zu den »letzten Dingen« gelangt. Sie sind ebenso selbstverständlich überzeugt, daß das, was sie auf diesem Wege als »Wahrheit« erreichen, dasselbe ist, was sie als Wahrheit erstrebt haben, und nicht etwa ein vorgestelltes Bild an der Stelle unverständlicher Geheimnisse.
    Aber wenn der Mensch ein denkendes Wesen ist, so ist er doch weit davon entfernt, ein Wesen zu sein, dessen Dasein im Denken
besteht
. Das haben die geborenen Grübler nicht unterschieden. Das Ziel des Denkens heißt Wahrheit. Wahrheiten werden festgestellt, d. h. aus der lebendigen Unfaßlichkeit der Lichtwelt in der Form von Begriffen abgezogen, um in einem System, einer Art von geistigem Raum, einen dauernden Ort zu erhalten. Wahrheiten sind absolut und ewig, d. h. sie haben mit dem Leben nichts mehr zu tun.
    Aber für ein Tier gibt es nur Tatsachen, keine Wahrheiten. Das ist der Unterschied zwischen praktischem und theoretischem Verstehen. Tatsachen und Wahrheiten unterscheiden sich wie Zeit und Raum, wie Schicksal und Kausalität. Eine Tatsache ist für das ganze Wachsein im Dienste des Daseins vorhanden, nicht nur für eine Seite des Wachseins unter vermeintlicher Ausschaltung des Daseins. Das wirkliche Leben, die Geschichte kennt
nur
Tatsachen. Lebenserfahrung und Menschenkenntnis richten sich nur auf Tatsachen. Der tätige Mensch, der Handelnde, Wollende, Kämpfende, der sich täglich gegen die Macht der Tatsachen behaupten und sie sich dienstbar machen oder unterliegen muß, sieht auf bloße Wahrheiten als etwas Unbedeutendes herab. Für den echten Staatsmann gibt es nur politische Tatsachen, keine politischen Wahrheiten. Die berühmte Frage des Pilatus ist die eines jeden Tatsachenmenschen.
    Es ist eine der gewaltigsten Leistungen Nietzsches, das Problem
vom Werte
der Wahrheit, des Wissens, der Wissenschaft aufgestellt zu haben – eine frivole Lästerung in den Augen jedes geborenen Denkers und Gelehrten, der damit den Sinn seines ganzen Daseins angezweifelt sieht. Wenn Descartes an allem zweifeln wollte, so doch gewiß nicht am Wert seiner

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