Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
Vom Netzwerk:
Meinung, daß das Leben eine Angelegenheit des schärfsten Nachdenkens sei, aber das Leben der Welt geht seine eigenen Wege und kümmert sich nicht um das, was von ihm gedacht wird. Und selbst wenn es einer Gemeinschaft gelingt, »der Lehre gemäß« zu leben, so erreichen sie damit bestenfalls, daß in einer künftigen Weltgeschichte in einer Anmerkung davon die Rede ist, nachdem das Eigentliche und einzig Wichtige vorher abgehandelt wurde.
    Denn nur der Handelnde, der Mensch des Schicksals, lebt letzten Endes in der
wirklichen
Welt, der Welt der politischen, kriegerischen und wirtschaftlichen Entscheidungen, in der Begriffe und Systeme nicht mitzählen. Hier ist ein guter Hieb mehr wert als ein guter Schluß, und es liegt Sinn in der Verachtung, mit welcher der Soldat und Staatsmann zu allen Zeiten auf die Tintenkleckser und Bücherwürmer herabgesehen hat, die der Meinung waren, daß die Weltgeschichte um des Geistes, der Wissenschaft oder gar der Kunst willen da sei. Sprechen wir es unzweideutig aus: Das vom Empfinden freigewordene Verstehen ist nur eine Seite des Lebens und nicht die entscheidende. In einer Geschichte des abendländischen Denkens darf der Name Napoleons fehlen, in der wirklichen Geschichte aber ist Archimedes mit all seinen wissenschaftlichen Entdeckungen vielleicht weniger wirksam gewesen als jener Soldat, der ihn bei der Erstürmung von Syrakus erschlug.
    Es ist ein gewaltiger Irrtum theoretischer Menschen, wenn sie glauben, ihr Platz sei an der Spitze und nicht im Nachtrab der großen Ereignisse. Das heißt die Rolle, welche die politisierenden Sophisten in Athen oder Voltaire und Rousseau in Frankreich gespielt haben, durchaus verkennen. Ein Staatsmann »weiß« oft nicht, was er tut, aber das hindert ihn nicht, mit Sicherheit gerade das Erfolgreiche zu tun; der politische Doktrinär weiß immer, was getan werden muß; trotzdem ist seine Tätigkeit, wenn sie sich einmal nicht auf das Papier beschränkt, die erfolgloseste und damit die wertloseste in der Geschichte. Es ist eine nur zu häufige Anmaßung in unsicher gewordenen Zeiten wie der attischen Aufklärung oder der französischen und der deutschen Revolution, wenn der schreibende und redende Ideologe statt in Systemen in den wirklichen Geschicken der Völker tätig sein will. Er verkennt seinen Platz. Er gehört mit seinen Grundsätzen und Programmen in die Geschichte der Literatur, in keine andere. Die wirkliche Geschichte fällt ihr Urteil nicht, indem sie den Theoretiker widerlegt, sondern indem sie ihn samt seinen Gedanken sich selbst überläßt. Mögen Plato und Rousseau, um von kleinen Geistern ganz zu schweigen, abstrakte Staatsgebäude aufführen – das ist für Alexander, Scipio, Cäsar, Napoleon und ihre Entwürfe, Schlachten und Anordnungen ganz ohne Bedeutung. Mögen jene über das Schicksal reden, ihnen genügt es, ein Schicksal zu sein.
    Unter allen mikrokosmischen Wesen bilden sich immer wieder
beseelte Masseneinheiten
, Wesen höherer Ordnung, die langsam entstehen oder plötzlich da sind mit allen Gefühlen und Leidenschaften des einzelnen, in ihrem Innern rätselhaft und dem Verstande unzugänglich, während der Kenner ihre Regungen wohl durchschaut und berechnen kann. Auch hier unterscheiden wir allgemein tierhafte, gefühlte Einheiten aus tiefster Verbundenheit des Daseins und Schicksals wie jenen Vogelzug am Himmel oder jenes stürmende Heer, und rein menschliche, verstandesmäßige Gemeinschaften auf Grund gleicher Meinungen, gleicher Zwecke und gleichen Wissens. Die Einheit des kosmischen Taktes hat man, ohne es zu wollen; die Einheit der Gründe eignet man sich an, wenn man will. Eine geistige Gemeinschaft kann man aufsuchen oder verlassen; an ihr nimmt nur das Wachsein teil. Einer kosmischen Einheit
verfällt
man, und zwar mit seinem
ganzen
Sein. Solche Mengen werden von den Stürmen der Begeisterung ebenso schnell gepackt wie von einer Panik. Sie sind rasend und verzückt in Eleusis und Lourdes oder von einem männlichen Geist ergriffen wie die Spartaner bei Thermopylae und die letzten Goten am Vesuv. Sie bilden sich unter der Musik von Chorälen, Märschen und Tänzen und unterliegen wie alle Rassemenschen und Rassetiere der Wirkung von leuchtenden Farben, von Schmuck, Tracht und Uniform.
    Diese beseelten Mengen werden geboren und sterben. Die geistigen Gemeinschaften, bloße Summen im mathematischen Sinne, sammeln, vergrößern, verkleinern sich, bis zuweilen eine bloße Übereinstimmung durch die Gewalt

Weitere Kostenlose Bücher