Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
Vom Netzwerk:
Mensch, jede Klasse, Nation, Familie
in bezug auf sich selbst
. Natur enthält das Merkmal der Ausdehnung, die
alle
umschließt. Geschichte aber ist das, was aus dunkler Vergangenheit
auf den Schauenden
zukommt und von ihm aus weiter in die Zukunft will. Er ist als der Gegenwärtige stets ihr Mittelpunkt, und es ist ganz unmöglich, in der sinnvollen Anordnung der Tatsachen die Richtung auszuschalten, die dem Leben und nicht dem Denken angehört. Jede Zeit, jedes Land, jede lebendige Menge hat ihren eignen historischen Horizont, und der berufene Geschichtsdenker zeigt sich eben darin, daß er das von seiner Zeit geforderte Geschichtsbild wirklich entwirft.
    Deshalb unterscheiden sich Natur und Geschichte wie echte und scheinbare Kritik, Kritik verstanden als Gegensatz zur Lebenserfahrung. Naturwissenschaft
ist
Kritik und nichts andres. In der Geschichte aber kann Kritik nur die Voraussetzung an Wissen schaffen, an dem dann der historische Blick seinen Horizont entwickelt.
Geschichte ist dieser Blick selbst
, gleichviel wohin er sich richtet. Wer diesen Blick besitzt, kann jede Tatsache und jede Lage »historisch« verstehen. Natur ist ein System, und Systeme kann man erlernen.
    Die
historische
Einstellung beginnt für jeden mit den frühesten Eindrücken der Kindheit. Kinderaugen sehen scharf und die Tatsachen der nächsten Umgebung, das Leben der Familie, des Hauses, der Straße werden bis in ihre letzten Gründe gefühlt und geahnt, lange bevor die Stadt mit ihren Bewohnern in den Gesichtskreis tritt und während noch die Worte Volk, Land, Staat keinen irgendwie greifbaren Inhalt besitzen. Ein ebenso gründlicher Kenner ist der primitive Mensch für alles, was ihm in seinem engen Kreise als Geschichte lebendig vor Augen steht. Vor allem das Leben selbst, das Schauspiel von Geburt und Tod, Krankheit und Alter, dann die Geschichte der kriegerischen und geschlechtlichen Leidenschaften, die er selbst erlebt oder an anderen beobachtet hat, die Schicksale der Nächsten, der Sippe, des Dorfes, ihre Handlungen und deren Hintergedanken, Erzählungen von langer Feindschaft, Kämpfen, Sieg und Rache. Die Lebenshorizonte weiten sich; nicht ein Leben, sondern
das
Leben entsteht und vergeht, nicht Dörfer und Sippen, sondern ferne Stämme und Länder, nicht Jahre, sondern Jahrhunderte treten vor das Auge. Die wirklich miterlebte, in ihrem Takt noch mitgefühlte Geschichte reicht niemals über die Generation des Großvaters hinaus, weder für die alten Germanen und die heutigen Neger noch für Perikles oder Wallenstein. Hier schließt ein Horizont des Lebens ab und es beginnt eine neue Schicht, deren Bild sich auf Überlieferung und historische Tradition gründet, welche das unmittelbare Mitfühlen einem deutlich gesehenen und durch lange Übung gesicherten Gedächtnisbilde einordnet, ein Bild, das für die Menschen verschiedener Kulturen in sehr verschiedener Weite entwickelt ist. Für uns beginnt mit diesem Bilde die eigentliche Geschichte, in der wir sub specie aeternitatis leben, für die Griechen und Römer hört sie hier auf. Für Thukydides hatten schon die Ereignisse der Perserkriege, [Er habe festgestellt, daß sich vor seiner Zeit nichts von Bedeutung ereignet habe, schreibt er – um 400! – auf der ersten Seite seines Geschichtswerkes.] für Cäsar die Punischen Kriege keine lebendige Bedeutung mehr. Über das alles hinaus aber entstehen neue historische Einzelbilder von den Schicksalen der Pflanzen- und Tierwelt, der Landschaft, der Gestirne und fließen mit den letzten Bildern der Natur zusammen in mythischen Vorstellungen von Weltanfang und Weltende.
    Das
Naturbild
des Kindes und des Urmenschen entwickelt sich aus der kleinen Technik des Alltags, die beide immer wieder zwingt, sich von dem angstvollen Schauen in die weite Natur den Sachlagen der nächsten Umgebung kritisch zuzuwenden. Wie die jungen Tiere entdeckt ein Kind seine ersten Wahrheiten durch das Spiel. Das Spielzeug untersuchen, die Puppe zerbrechen, den Spiegel umkehren, um zu sehen, was dahinter ist, das Triumphgefühl, etwas als richtig festgestellt zu haben, was nun immer so bleiben muß – darüber hinaus ist keine Naturforschung je gedrungen. Diese kritische Erfahrung erwirbt sich der Urmensch an seinen Waffen und Werkzeugen, an den Stoffen für seine Kleidung, Nahrung und Wohnung, an Dingen also,
insofern sie tot sind
. Das gilt auch von Tieren, die er jetzt plötzlich nicht mehr als Lebewesen versteht, indem er als Verfolger oder Verfolgter

Weitere Kostenlose Bücher