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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Frage.
    Aber es ist ein anderes, Fragen zu stellen, ein anderes, an Lösungen zu glauben. Die Pflanze lebt und weiß es nicht. Das Tier lebt und weiß es. Der Mensch erstaunt über sein Leben und fragt. Eine Antwort kann auch der Mensch nicht geben. Er kann nur an die Richtigkeit seiner Antwort
glauben
, und darin besteht zwischen Aristoteles und dem ärmsten aller Wilden nicht der geringste Unterschied.
    Warum müssen denn Geheimnisse enträtselt, Fragen beantwortet werden? Ist es nicht die Angst, die schon aus Kinderaugen spricht, die furchtbare Mitgift des menschlichen Wachseins, dessen Verstehen, von den Sinnen abgelöst, nun vor sich hinbrütet, in alle Tiefen der Umwelt dringen muß und nur durch Lösungen
er
löst werden kann? Kann das verzweifelte Glauben ans Wissen von dem Alpdruck der großen Fragen befreien?
    »Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil.« Wem
das
vom Schicksal versagt worden ist, der muß versuchen, Geheimnisse aufzudecken, das Ehrfurchtgebietende anzugreifen, zu zerlegen, zu zerstören und seine Beute an Wissen davonzutragen. Der Wille zum System ist der Wille, Lebendiges zu töten. Es wird festgestellt, starr gemacht, an die Kette der Logik gelegt. Der Geist hat
gesiegt
, wenn er sein Geschäft des Erstarrenmachens zu Ende geführt hat.
    Was man mit den Worten Vernunft und Verstand zu unterscheiden pflegt, ist das pflanzenhafte Ahnen und Fühlen, das sich der Sprache des Auges und Wortes nur
bedient
, und auf der anderen Seite das tierhafte, sprachgeleitete Verstehen selbst. Die Vernunft ruft Ideen ins Leben, der Verstand findet Wahrheiten, Wahrheiten sind leblos und lassen sich mitteilen, Ideen gehören zum lebendigen Selbst ihres Urhebers und können nur mitgefühlt werden. Das Wesen des Verstandes ist Kritik, das Wesen der Vernunft ist Schöpfung. Die Vernunft erzeugt das, worauf es ankommt, der Verstand setzt es voraus. Das besagt jener tiefe Ausspruch von Bayle, daß der Verstand nur ausreiche, um Irrtümer zu entdecken, nicht um Wahrheiten zu finden. In der Tat: verstehende Kritik wird zuerst geübt und entwickelt an der damit verbundenen sinnlichen Empfindung. Hier, im Sinnesurteil, lernt das Kind begreifen und unterscheiden. Von dieser Seite abgezogen und mit sich selbst beschäftigt, bedarf die Kritik eines Ersatzes für die zum Objekt dienende Sinnentätigkeit. Dieser kann nur durch eine
schon vorhandene
Denkweise gegeben sein, an der sich nun die abstrakte Kritik übt. Ein anderes Denken, eins, das frei und aus dem Nichts aufbaut, gibt es nicht.
    Denn lange, bevor der ursprüngliche Mensch abstrakt dachte, hatte er sich ein religiöses Weltbild geschaffen. Das ist der Gegenstand, an dem nun der Verstand kritisch arbeitet. Alle Wissenschaft ist an einer Religion und unter den gesamten seelischen Voraussetzungen einer Religion erwachsen und sie bedeutet nichts anderes als die abstrakte Verbesserung dieser als falsch betrachteten, weniger abstrakten Lehre. Jede trägt in ihrem ganzen Bestand von Grundbegriffen, Problemstellungen und Methoden den Kern einer Religion mit sich fort. Jede neue Wahrheit, die der Verstand findet, ist nichts als ein kritisches Urteil über eine andere, die schon da war. Die Polarität zwischen neuem und altem Wissen bringt es mit sich, daß es nur relativ Richtiges in der Welt des Verstandes gibt, nämlich Urteile von größerer Überzeugungskraft als andre Urteile. Kritisches Wissen ruht auf dem Glauben an die Überlegenheit des Verstehens von heute über das von gestern. Es ist wieder das Leben, das uns zu diesem Glauben zwingt.
    Kann also Kritik die großen Fragen lösen oder nur ihre Unlösbarkeit feststellen? Am Anfang des Wissens glauben wir das erste. Je mehr wir wissen, desto sichrer wird uns das zweite. Solange wir hoffen, nennen wir das Geheimnis ein Problem.
    Es gibt also für den wachen Menschen ein doppeltes Problem: das des Wachseins und das des Daseins, oder das des Raumes und das der Zeit, oder die Welt als Natur und die Welt als Geschichte, oder die der Spannung und die des Taktes: das Wachsein sucht nicht nur sich selbst zu verstehen, sondern außerdem etwas, das ihm fremd ist. Mag eine innere Stimme ihm sagen, daß hier alle Möglichkeiten des Erkennens überschritten sind, die Angst überredet dennoch jedes Wesen, weiter zu suchen und lieber mit dem Schein einer Lösung vorlieb zu nehmen als mit dem Blick in das Nichts.
4
    Das Wachsein besteht aus Empfinden und Verstehen, deren gemeinsames Wesen eine fortdauernde Orientierung

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