Der Untergang des Abendlandes
physiognomischer Begabung definieren kann. Aber trotzdem und eben deshalb gibt es für jeden Menschen,
weil
er einer Klasse, Zeit, Nation und Kultur angehört, und wieder für diese Zeit, Klasse, Kultur im ganzen ein typisches Bild der Geschichte, wie es in bezug auf sie vorhanden sein
sollte
. Als höchste Möglichkeit besitzt das
Gesamtdasein
jeder Kultur ein für sie symbolisches Urbild ihrer Welt als Geschichte, und alle Einstellungen der einzelnen und der als lebendige Wesen wirkenden Mengen sind Abbilder davon. Wenn man die Anschauung eines andern als bedeutend, flach, originell, trivial, verfehlt, veraltet bezeichnet, so geschieht dies stets, ohne daß jemand sich dessen bewußt wäre, im Hinblick auf das im
Augenblick geforderte
Bild als der beständigen Funktion der Zeit und des Menschen.
Es versteht sich, daß jeder Mensch der faustischen Kultur sein eignes Bild der Geschichte besitzt, und nicht nur eines, sondern unzählige von seiner Jugend an, die je nach den Erlebnissen des Tages und der Jahre unaufhörlich schwanken und sich verändern. Und wie verschieden ist wieder das typische Geschichtsbild der Menschen verschiedener Zeitalter und Stände: die Welt Ottos des Großen und die Gregors VII., die eines Dogen von Venedig und die eines armen Pilgers! In wie verschiednen Welten haben Lorenzo de' Medici, Wallenstein, Cromwell, Marat, Bismarck gelebt, ein Höriger der gotischen, ein Gelehrter der Barockzeit, Offiziere des Dreißigjährigen, des Siebenjährigen und des Befreiungskrieges und allein in unsern Tagen ein friesischer Bauer, der nur mit seiner Landschaft und deren Bevölkerung wirklich lebt, ein Hamburger Großkaufmann und ein Physikprofessor! Und trotzdem hat das alles, unabhängig von Alter, Stellung und Zeit des einzelnen einen gemeinsamen Grundzug, der die Gesamtheit dieser Bilder, ihr Urbild, von dem jeder andern Kultur unterscheidet.
Was aber das antike und indische Geschichtsbild vollständig von dem chinesischen und arabischen und noch viel schärfer von dem abendländischen trennt, ist die Enge des Horizonts. Was die Griechen von der altägyptischen Geschichte wissen konnten und wissen mußten, haben sie nie in ihr eignes Geschichtsbild eintreten lassen, das für die meisten mit den Ereignissen abschloß, von denen die letzten Überlebenden noch erzählen konnten, und in dem selbst für die besten Köpfe mit dem Trojanischen Kriege eine Grenze gesetzt wurde, jenseits deren es kein geschichtliches Leben mehr geben
sollte
.
Die arabische Kultur hat zuerst, und zwar im Geschichtsdenken sowohl der Juden wie der Perser etwa seit Kyros, den erstaunlichen Griff gewagt, die Weltschöpfungslegende durch eine echte Zeitrechnung mit der Gegenwart zu verbinden und bei den Persern sogar eine chronologische Festlegung des Jüngsten Gerichts und der Erscheinung des Messias vorzunehmen. Diese scharfe und sehr enge Abgrenzung der gesamten Menschengeschichte – die persische umfaßt im ganzen zwölf, die jüdische bis jetzt noch nicht sechs Jahrtausende – ist ein notwendiger Ausdruck des magischen Weltgefühls und scheidet die jüdisch-persische Schöpfungssage ihrer tieferen Bedeutung nach vollständig von den Vorstellungen der babylonischen Kultur, denen sie viele äußere Züge entnommen hat. Aus einem ganz andern Gefühl heraus hat das chinesische und ägyptische Geschichtsdenken eine weite Perspektive ohne Abschluß eröffnet, und zwar durch eine chronologisch gesicherte Reihe von Dynastien, die sich über Jahrtausende hin in graue Ferne verlieren.
Das faustische Bild der Weltgeschichte setzt sogleich, vorbereitet durch die christliche Zeitrechnung [522 unter der Ostgotenherrschaft in Rom entstanden, aber erst seit Karl dem Großen rasch über das germanische Abendland verbreitet.] , mit einer ungeheuren Erweiterung und Vertiefung des von der abendländischen Kirche übernommenen magischen Bildes ein, das von Joachim von Floris um 1200 zur Grundlage einer tiefsinnigen Deutung aller Weltschicksale als der Folge dreier Zeitalter des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes genommen wurde. Dazu trat eine immer wachsende Erweiterung des geographischen Horizonts, der schon in gotischer Zeit durch die Wikinger und Kreuzfahrer von Island bis zu entlegenen Teilen Asiens gedehnt wurde [Mit einer sehr bezeichnenden Verengerung des tatsächlichen erlebten Geschichtsbildes im Bewußtsein des echten Renaissancemenschen.] . Für den höheren Menschen des Barock seit 1500 wird nun zum ersten Male und im
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