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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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ihre Bewegungen beobachtet und berechnet, sondern als eine Zusammensetzung von Fleisch und Knochen, die er im Hinblick auf einen bestimmten Zweck unter Absehen von der Eigenschaft des Lebendigseins ganz mechanisch betrachtet, genau so wie er ein Ereignis eben noch als die Tat eines Dämons und gleich darauf als Kette von Ursache und Wirkung auffaßt. Es ist dieselbe Umstellung, die auch der reife Kulturmensch täglich und stündlich immer wieder vollzieht. Auch um diesen Naturhorizont legt sich eine weitere Schicht, die aus den Eindrücken von Regen, Blitz und Sturm, Tag und Nacht, Sommer und Winter, dem Mondwechsel und dem Gang der Gestirne gebildet wird. Hier zwingen religiöse Schauer voller Angst und Ehrfurcht ihn zu einer Kritik von ganz anderem Range. Wie er in jenem Geschichtsbilde die letzten Tatsachen des Lebens ergründen wollte, so sucht er hier die letzten Wahrheiten der Natur festzustellen. Was jenseits aller Grenzen des Verstehens liegt, nennt er die Gottheit, und alles diesseits Liegende sucht er als Wirkung, Schöpfung und Offenbarung der Gottheit kausal zu begreifen.
    Jede Sammlung von naturhaft Festgestelltem hat also eine doppelte Tendenz, die von Urzeiten her unverändert geblieben ist. Die eine richtet sich auf ein möglichst vollständiges System
technischen
Wissens, das zu praktischen, wirtschaftlichen und kriegerischen Zwecken dient, das viele Tierarten in hoher Vollendung ausgebildet haben und das von da an über die frühmenschliche Kenntnis des Feuers und der Metalle in gerader Linie zur Maschinentechnik der heutigen faustischen Kultur führt. Die andre hat sich erst mit der Ablösung des rein menschlichen Denkens vom Sehen durch die Wortsprache gebildet und erstrebt ein ebenso vollständiges
theoretisches
Wissen, das wir in seiner ursprünglichen Form
religiös
und in der in späten Kulturen daraus abgeleiteten
naturwissenschaftlich
nennen. Das Feuer ist für den Krieger eine Waffe, für den Handwerker ein Teil seines Werkzeuges, für den Priester ein Zeichen der Gottheit und für den Gelehrten ein Problem. Das alles aber gehört der naturhaften Einstellung des Wachseins an. In der Welt als Geschichte erscheint nicht das Feuer überhaupt, sondern der Brand von Karthago und Moskau und die Flamme der Scheiterhaufen, auf denen Huß und Giordano Bruno verbrannt wurden.
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    Ich wiederhole: Jedes Wesen erlebt das andre und dessen Schicksale
nur in bezug auf sich selbst
. Den Taubenschwarm, der sich auf ein Feld niederläßt, verfolgt der Besitzer des Feldes mit ganz anderen Blicken als der Naturfreund auf der Straße und der Habicht in der Luft. Der Bauer sieht in seinem Sohn den Nachkommen und Erben, der Nachbar den Bauern, der Offizier den Soldaten, der Fremde den Eingebornen. Napoleon hat als Kaiser die Menschen und Dinge anders erlebt wie als Leutnant. Man versetze einen Menschen in eine andre Lage, man mache einen Revolutionär zum Minister, einen Soldaten zum General, und die Geschichte mit ihren Trägern wird für ihn mit einem Schlage etwas anderes. Talleyrand durchschaute die Menschen seiner Zeit, weil er zu ihnen gehörte. Er hätte Crassus, Cäsar, Catilina und Cicero, wäre er plötzlich unter sie versetzt worden, in allen ihren Maßregeln und Absichten falsch oder gar nicht verstanden. Es gibt keine Geschichte an sich. Die Geschichte einer Familie nimmt sich für jeden Angehörigen, die eines Landes für jede Partei, die Zeitgeschichte für jedes Volk anders aus. Der Deutsche sieht den Weltkrieg anders als der Engländer, der Arbeiter die Wirtschaftsgeschichte anders als der Unternehmer, der Historiker des Abendlandes hat eine ganz andre Weltgeschichte vor Augen als die großen arabischen und chinesischen Geschichtsschreiber, und nur aus sehr großer Entfernung und ohne innere Beteiligung könnte die Geschichte einer Zeit objektiv dargestellt werden, aber die besten Historiker der Gegenwart beweisen, daß sie nicht einmal den Peloponnesischen Krieg und die Schlacht bei Actium ganz ohne Beziehung auf gegenwärtige Interessen beurteilen und darstellen können.
    Die tiefste Menschenkenntnis schließt nicht aus, sondern fordert sogar, daß ihre Einsichten durchaus die Farbe dessen tragen, der sie hat. Gerade der Mangel an Menschenkenntnis und Lebenserfahrung ergeht sich in Verallgemeinerungen, die alles Bedeutende, nämlich das Einmalige der Geschichte verzerren oder völlig übersehen, am schlimmsten jene materialistische Geschichtsauffassung, die man beinahe erschöpfend als Mangel an

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