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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Unterschied von allen andern Kulturen die gesamte Oberfläche des Planeten zum Schauplatz menschlicher Geschichte. Zum ersten Male haben Kompaß und Fernrohr für die Gebildeten dieser Spätzeit aus der bloßen theoretischen Annahme einer Kugelgestalt der Erde das wirkliche Gefühl gemacht, auf einer Kugel im Weltraum zu leben. Der Länderhorizont hört auf und ebenso der zeitliche durch die doppelte Unendlichkeit der Jahreszählung vor und nach Christi Geburt. Und unter dem Eindruck dieses planetarischen, zuletzt alle hohen Kulturen umfassenden Bildes vollzieht sich heute die Auflösung jener gotischen, längst flach und leer gewordnen Einteilung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit.
    In allen andern Kulturen fallen die Aspekte Weltgeschichte und Menschengeschichte zusammen; der Weltanfang ist der Anfang des Menschen; das Ende der Menschheit ist auch das Ende der Welt. Der faustische Hang zum Unendlichen läßt während des Barock zum ersten Male beide Begriffe auseinandertreten und macht die Menschengeschichte in einer noch nie bekannten Ausdehnung dennoch
zu einer bloßen Episode in der Weltgeschichte
, und die Erde, von der andre Kulturen nur ein Oberflächenstück als »Welt« überblickten, zu einem kleinen Stern unter Millionen von Sonnensystemen.
    Diese Ausdehnung des historischen Weltbildes macht es in der heutigen Kultur noch viel notwendiger als in jeder andern, sorgfältig zwischen der Alltagseinstellung der meisten Menschen und der Maximaleinstellung zu unterscheiden, deren nur die höchsten Geister fähig sind, die sich aber auch in diesen nur für Augenblicke vollzieht. Der Unterschied zwischen dem historischen Horizont des Themistokles und dem eines attischen Bauern ist vielleicht geringfügig, aber schon der zwischen dem Geschichtsbild Kaiser Heinrichs VI. und dem eines Hörigen seiner Zeit ist ungeheuer, und mit dem Aufstieg der faustischen Kultur werden die höchstmöglichen Einstellungen so erweitert und vertieft, daß es immer engere Kreise sind, denen sie zugänglich bleiben. Es bildet sich gleichsam eine Pyramide von Möglichkeiten, auf der jeder einzelne seiner Veranlagung nach eine Stufe einnimmt, welche durch die höchste ihm erreichbare Einstellung bezeichnet wird. Damit aber gibt es zwischen abendländischen Menschen eine Grenze der Verständigung in geschichtlichen Lebensfragen, wie sie in dieser verhängnisvollen Schärfe ohne Zweifel keiner andern Kultur bekannt war. Kann heute ein Arbeiter einen Bauern wirklich verstehen? Oder ein Diplomat einen Handwerker? Der historisch-geographische Horizont, aus dem heraus beide ihre wichtigsten Fragen in Worte fassen, ist so verschieden, daß aus der Mitteilung ein Vorbeireden wird. Ein wirklicher Menschenkenner versteht wohl auch noch die Einstellung des andern und richtet seine Mitteilung danach ein – wie wir es alle machen, wenn wir mit Kindern sprechen –, aber die Kunst, sich auch noch in das Geschichtsbild eines Menschen der Vergangenheit, Heinrichs des Löwen oder Dantes so einzuleben, daß man seine Gedanken, Gefühle und Entscheidungen als selbstverständlich begreift, ist bei dem gewaltigen Abstand beider Wachseinszustände so selten, daß sogar die Aufgabe als solche um 1700 noch gar nicht geahnt und erst seit 1800 zu einer sehr selten erfüllten Forderung der Geschichtsschreibung geworden ist.
    Die echt faustische Trennung der eigentlichen Menschengeschichte von der viel weiteren Weltgeschichte hat zur Folge, daß seit dem Ausgang des Barock sich in unserem Weltbild mehrere Horizonte in getrennten Schichten hintereinander lagern, für deren Untersuchung sich Einzelwissenschaften von mehr oder weniger ausgesprochen historischem Charakter ausgebildet haben. Die Astronomie, Geologie, Biologie, Anthropologie verfolgen der Reihe nach die Schicksale der Sternenwelt, der Erdrinde, der Lebewesen, des Menschen, und erst dann beginnt die heute noch so genannte »Weltgeschichte« der hohen Kulturen, an welche sich weiterhin die Geschichte einzelner Kulturelemente, die Familiengeschichte, zuletzt die gerade im Abendlande sehr ausgebildete Biographie anschließen.
    Jede dieser Schichten fordert eine Einstellung für sich, und mit dem Augenblick dieser Einstellung hören die engeren und weiteren Schichten auf, lebendiges Werden zu sein, und sind schlechthin gegebene Tatsachen. Untersuchen wir die Schlacht im Teutoburger Walde, so ist die Entstehung dieses Waldes innerhalb der Pflanzenwelt Norddeutschlands vorausgesetzt. Fragen wir nach der

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