Der Untergang des Abendlandes
Hohe Kultur ist das Wachsein eines einzigen ungeheuren Organismus, der nicht nur Sitte, Mythos, Technik und Kunst, sondern auch die ihm einverleibten Völker und Stände zu Trägern einer einheitlichen Formensprache mit einheitlicher Geschichte macht. Die älteste Sprachgeschichte gehört zur primitiven Kultur und hat ihre eignen regellosen Schicksale, die man aus denen des Ornaments oder etwa der Geschichte der Ehe nicht ableiten kann. Die Geschichte der Schrift aber gehört zur Ausdrucksgeschichte der einzelnen hohen Kulturen. Je eine besondere Schrift hat sich schon in der Vorzeit der ägyptischen, chinesischen, babylonischen und mexikanischen Kultur ausgebildet. Daß das in der indischen und antiken nicht geschah, daß man die hochentwickelten Schriften alter Nachbarzivilisationen erst sehr spät übernahm, während in der arabischen Kultur jede neue Religion und Sekte alsbald eine eigne Schrift ausbildet, das steht im tiefsten Zusammenhang mit der gesamten Formengeschichte dieser Kulturen und deren innerer Bedeutung.
Auf diese beiden Zeitalter beschränkt sich unser wirkliches Wissen vom Menschen und das reicht nicht aus, um irgendwelche Schlüsse auf mögliche oder gewisse neue Zeitalter oder gar deren Wann und Wie zu ziehen, ganz abgesehen davon, daß die kosmischen Zusammenhänge, welche das Schicksal der Gattung Mensch beherrschen, unsrer Berechnung vollständig entzogen sind.
Meine Art zu denken und zu beobachten beschränkt sich auf die Physiognomik des Wirklichen. Wo die Erfahrung des Menschenkenners seiner Mitwelt, die Lebenserfahrung eines Tatgewohnten den Tatsachen gegenüber aufhört, da findet auch dieser Blick seine Grenze. Das Vorhandensein jener zwei Zeitalter ist
eine Tatsache der historischen Erfahrung
und weiterhin besteht unsre Erfahrung von der primitiven Kultur darin, daß wir hier etwas Abgeschlossenes in seinen Resten übersehen können, dessen tiefere Bedeutung von uns aus einer innern Verwandtschaft heraus noch eben erfühlt werden kann. Das zweite Zeitalter aber erlaubt uns noch eine Erfahrung von ganz andrer Art. Daß innerhalb der Menschengeschichte plötzlich der Typus der hohen Kultur erscheint, ist ein Zufall, dessen Sinn nicht nachzuprüfen ist. Es ist auch ungewiß, ob nicht ein plötzliches Ereignis im Dasein der Erde eine ganz andre Form zum Vorschein bringt. Aber die Tatsache, daß acht solcher Kulturen vor uns liegen, alle von gleichem Bau, gleichartiger Entwicklung und Dauer, gestattet uns eine
vergleichende Betrachtung
und damit ein Wissen, das sich über verschollene Epochen rückwärts und über bevorstehende vorwärts erstreckt, immer unter der Voraussetzung, daß nicht ein Schicksal anderer Ordnung diese Formenwelt überhaupt plötzlich durch eine neue ersetzt. Ein Recht dazu gibt uns die allgemeine
Erfahrung
vom organischen Dasein. Wir können in der Geschichte der Raubvögel oder der Nadelhölzer nicht voraussehen, ob und wann eine neue Art, und ebensowenig in der Kulturgeschichte, ob und wann in Zukunft eine neue Kultur entsteht. Aber von dem Augenblick an, wo ein neues Wesen im Mutterleib empfangen oder ein Samenkorn in die Erde versenkt ist, kennen wir die
innere Form des neuen Lebenslaufes
, die durch alle andringenden Gewalten nur in der Ruhe ihrer Entfaltung und Vollendung gestört, nicht aber in ihrem Wesen geändert werden kann.
Diese Erfahrung lehrt weiterhin, daß die Zivilisation, welche heute die ganze Erdoberfläche ergriffen hat, nicht ein drittes Zeitalter ist, sondern ein notwendiges Stadium ausschließlich der abendländischen Kultur, das sich von dem jeder andern nur durch die Gewalt der Ausdehnung unterscheidet. Hier ist die Erfahrung zu Ende. Darüber zu grübeln, in was für neuen Formen der künftige Mensch sein Dasein führen wird, ob
überhaupt
andre kommen werden, oder gar auf dem Papier majestätische Umrisse mit einem »So soll es, so wird es sein« zu entwerfen, ist eine Spielerei, die mir zu unbedeutend erscheint, um die Kräfte eines irgendwie wertvollen Lebens daran zu wenden.
Die Gruppe der hohen Kulturen ist keine organische Einheit. Daß sie in dieser Zahl, an diesen Orten und zu dieser Zeit entstanden, ist für das menschliche Auge ein Zufall ohne tieferen Sinn. Dagegen tritt die Gliederung der einzelnen mit solcher Deutlichkeit hervor, daß die chinesische, arabische und abendländische Geschichtsschreibung und oft schon das übereinstimmende Gefühl der Gebildeten eine Reihe von Namen geprägt hat, die sich gar nicht verbessern
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