Der Untergang des Abendlandes
Perser, Phöniker gearbeitet und die Griechen haben ihre Werke in sehr großer Zahl gekannt, Bauten, Ornamente, Kunstwerke, Kulte, Staatsformen, Schriftarten, Wissenschaften – was von alledem hat die antike Seele als Mittel zum eigenen Ausdruck herangezogen? Ich wiederhole: man sieht immer nur die Beziehungen, die zugelassen worden sind. Was alles ist aber
nicht
zugelassen worden? Warum befinden sich z. B. die ägyptischen Pyramiden, Pylonen, Obelisken, die Hieroglyphen- und Keilschrift nicht darunter? Was hat die gotische Kunst, das gotische Denken in Byzanz, in dem maurischen Orient, in Spanien und Sizilien
nicht
angenommen? Man kann die gänzlich unbewußte Weisheit der Auswahl und der ebenso entschlossenen Umdeutung gar nicht hoch genug einschätzen. Jede Beziehung, die zugelassen wird, ist nicht nur eine Ausnahme, sondern auch ein Mißverständnis, und die innere Kraft eines Daseins äußert sich vielleicht nirgends so deutlich wie in dieser
Kunst des planmäßigen Mißverstehens.
Je lauter man die Prinzipien eines fremden Denkens rühmt, desto gründlicher hat man sicherlich ihren Sinn verändert. Man gehe doch dem Lobe Platos im Abendlande einmal genau nach! Von Bernhard von Chartres und Marsilius Ficinus bis zu Goethe und Schelling! Je demütiger man eine fremde Religion annimmt, desto vollkommener hat sie bereits die Form der neuen Seele angenommen. Es sollte wirklich einmal die Geschichte der »drei Aristoteles« geschrieben werden, nämlich des griechischen, arabischen und gotischen, die nicht einen Begriff, nicht einen Gedanken gemein haben. Oder die Geschichte der Verwandlung des magischen in das faustische Christentum! Wir hören und lernen, daß diese Religion sich im Westen unverändert von der alten Kirche aus über das Abendland verbreitet hat. In Wirklichkeit entwickelte der magische Mensch aus der ganzen Tiefe seines dualistischen Weltbewußtseins eine Sprache seines religiösen Wachseins, die wir »das« Christentum nennen. Was von diesem Erlebnis mitteilbar war, Worte, Formeln, Gebräuche, nahm der Mensch der spätantiken Zivilisation als Mitte für
sein
religiöses Bedürfnis an; von Mensch zu Mensch ging diese Formensprache bis zu den Germanen der abendländischen Vorkultur, in den Wortklängen immer dasselbe, in den Bedeutungen immer etwas anderes. Man würde nie gewagt haben, die ursprüngliche Bedeutung der heiligen Worte zu
verbessern,
aber man hat sie gar nicht gekannt. Wer das bezweifelt, der betrachte »die« Idee der Gnade, wie sie sich bei Augustin im dualistischen Sinne auf eine Substanz im Menschen, bei Calvin im dynamischen Sinne auf den Willen im Menschen richtet. Oder die uns kaum verständliche magische Vorstellung von
»consensus«
, [Arabisch idjma, vgl. Bd. II, S. 853 ff.] welche in jedem Menschen ein
pneuma
als Ausfluß des göttlichen
pneuma
voraussetzt und infolgedessen in der übereinstimmenden Meinung der Berufenen die unmittelbare göttliche Wahrheit findet. Auf dieser Gewißheit beruht die Würde der frühchristlichen Konzilbeschlüsse ebenso wie die wissenschaftliche Methode, die heute noch in der Welt des Islam herrscht. Da der Mensch des Abendlandes dies nicht begriff, so wurden die Konzile der spätgotischen Zeit für ihn zu einer Art von Parlament, das die geistige Bewegungsfreiheit des Papsttums beschränken sollte. So hat man die konziliare Idee noch im 15. Jahrhundert aufgefaßt – man denke an Konstanz, Basel, an Savonarola und Luther – und sie mußte endlich als frivol und sinnlos vor dem Gedanken der päpstlichen Unfehlbarkeit verschwinden. Oder der allgemein früharabische Gedanke der Auferstehung des Fleisches, der ebenfalls die Vorstellung vom göttlichen und menschlichen
pneuma
voraussetzt. Der antike Mensch nahm an, daß die Seele als Form und Sinn des Leibes irgendwie mit ihm entstehe. Im griechischen Denken ist davon kaum die Rede. Ein solches Schweigen kann zwei Gründe haben: entweder kennt man den Gedanken nicht, oder er ist so selbstverständlich, daß er als Problem gar nicht zum Bewußtsein kommt. Das ist hier der Fall. Ebenso selbstverständlich ist es für den arabischen Menschen, daß sein
pneuma
als Ausfluß aus dem Göttlichen in seinem Leibe Wohnung genommen hat. Daraus folgt, daß etwas da sein muß, wenn am Jüngsten Tage der menschliche Geist wieder erstehen soll: daher die Auferstehung ἐκ νεκρῶν, aus den Leichen. Dies ist in seiner Tiefe für das abendländische Weltgefühl völlig unverständlich. Am Wortlaut der
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