Der Untergang des Abendlandes
Vorstellungen gänzlich fern. Das römische
jus civile
galt
nur
für Quiriten; Fremde, Sklaven, die ganze Welt außerhalb der Stadt kam dafür nicht in Betracht, während schon im Sachsenspiegel tiefgefühlt der Gedanke liegt, daß es eigentlich nur
ein
Recht geben könne. Bis in die späte Kaiserzeit bestand in Rom der strenge Unterschied zwischen dem
jus civile
für Bürger und dem
jus gentium
– das etwas ganz anderes ist als unser Völkerrecht – für die »andern«, die im Machtbereich Roms als Objekte von dessen Rechtsprechung weilten. Nur weil Rom dahin gelangte, als einzelne Stadt das antike Imperium zu beherrschen – was bei einer andern Entwicklung der Dinge auch Alexandria möglich gewesen wäre –, ist das römische Recht, nicht durch seine innere Überlegenheit, sondern zuerst durch den politischen Erfolg und dann durch den Alleinbesitz der praktischen Erfahrung großen Stils an die Spitze getreten. Die Ausbildung eines allgemein antiken Rechts hellenistischen Stils – wenn man damit den verwandten Geist
vieler Einzelrechte
bezeichnen darf – fällt in eine Zeit, wo Rom eine politische Größe dritten Ranges war. Und als das römische Recht begann, großartige Formen anzunehmen, war das nur eine Seite der Tatsache, daß römischer Geist den Hellenismus unterworfen hatte: die Ausbildung des antiken Spätrechts geht vom Hellenismus auf Rom über, und damit von einer Summe von Stadtstaaten, die dabei unter dem Eindruck der Tatsache standen, daß keine von ihnen wirkliche Macht besaß, an eine einzige, deren ganze Tätigkeit schließlich in der Ausübung dieser Vormacht aufging. Deshalb ist es nicht zur Ausbildung einer Rechtswissenschaft in griechischer Sprache gekommen. Als die Antike in ein Stadium trat, wo sie für diese Wissenschaft, die letzte von allen, reif war, gab es nur noch
eine
rechtsetzende Stadt, die dafür praktisch in Betracht kam.
Es wird also nicht genügend beachtet, daß es sich bei griechischem und römischem Recht nicht um ein Nebeneinander, sondern um ein Nacheinander handelt. Das römische Recht ist das jüngste; es setzt die andern mit ihren langen Erfahrungen voraus [Die »Abhängigkeit« des antiken Rechts vom ägyptischen ist zufällig noch festzustellen: der Großkaufmann Solon hat in seiner attischen Rechtsschöpfung Bestimmungen über Schuldknechtschaft, Obligationenrecht, Arbeitsscheu und Erwerbslosigkeit der ägyptischen Gesetzgebung entnommen, Diodor I, 77, 79, 94.] und wurde unter deren vorbildlichem Eindruck spät und sehr rasch ausgebaut. Es ist wichtig, daß die Blütezeit der stoischen Philosophie, die auf das Rechtsdenken tief gewirkt hat, der Blüte der griechischen Rechtsbildung folgte, der römischen aber voranging.
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Diese Ausbildung geschah aber im Denken einer extrem unhistorischen Menschenart. Infolgedessen ist das antike Recht durchaus
ein Recht des Tages, ja des Augenblicks
. Es wird der Idee nach in jedem einzelnen Fall für diesen Fall geschaffen und hört mit dessen Erledigung auf, Recht zu sein. Seine Geltung auch für künftige Anlässe würde dem antiken Gegenwartssinn widersprechen. Der römische Prätor stellte zu Beginn seines Amtsjahres ein Edikt auf, in dem er die Rechtssätze mitteilt, nach denen er zu verfahren gedenkt, aber sein Nachfolger ist in keiner Weise an sie gebunden. Und selbst diese Begrenzung des geltenden Rechtes auf ein Jahr entspricht nicht der tatsächlichen Dauer. Vielmehr formuliert der Prätor in jedem einzelnen Falle für das von den Geschworenen zu fällende Urteil den konkreten Rechtssatz – namentlich seit der
lex Aebutia
–, nach welchem dies Urteil und nur dies eine gesprochen werden muß. Er erzeugt damit im strengsten Sinne des Wortes ein »gegenwärtiges Recht« ohne jede Dauer. [L. Wenger, Recht der Griechen und Römer, S. 166 f.]
Scheinbar ähnlich, aber dem Sinne nach ganz anders und eben deshalb so geeignet, die tiefe Kluft zwischen antikem und abendländischem Recht aufzudecken, ist ein genialer, echt germanischer Zug im englischen Recht: die rechtsschöpferische Gewalt des Richters. Er soll ein Recht anwenden, das der Idee nach ewige Geltung besitzt. Schon die Anwendung der bestehenden Gesetze im Gerichtsverfahren, in dessen Anordnung ihr Zweck erst zur Erscheinung kommt, kann er durch seine »
Rules
«, Ausführungsvorschriften (die mit der erwähnten prätorischen Schriftformel nichts gemein haben) nach eignem Ermessen regeln. Kommt er aber zu dem Schluß, daß in einem einzelnen Fall ein
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