Der Untergang des Abendlandes
Kategorien der Auffassung an. Das Wort dafür besteht also aus einem Kern (Wurzel) mit einer Anzahl einsilbiger Präfixe. Wenn er von einer Frau auf dem Felde spricht, so ist das Wort dafür etwa: Lebendig – Einzahl – Groß – Alt – Weiblich – Draußen –
Mensch
; das sind sieben Silben, aber sie bezeichnen einen einzigen, scharfen und uns sehr fremden Akt der Auffassung. Es gibt Sprachen, in denen das Wort beinahe mit dem Satze zusammenfällt.
Der Schritt für Schritt erfolgende Ersatz von körperlichen oder klanglichen durch grammatische Gebärden ist also für die Ausbildung des Satzes das Entscheidende, aber er ist nie vollendet worden. Reine Wortsprachen gibt es nicht. Die Tätigkeit des Sprechens in Worten, wie sie immer schärfer hervortritt, besteht darin, daß wir durch Wortklänge Bedeutungsgefühle wecken, die durch den Klang der Wortverbindungen weitere Beziehungsgefühle wachrufen. Wir sind durch die Schule des Sprechenlernens geübt, in dieser abkürzenden und andeutenden Form sowohl die Lichtdinge und Lichtbeziehungen wie die daraus abgezogenen Denkdinge und Denkbeziehungen zu verstehen. Worte werden nur genannt, nicht definitionsgemäß gebraucht, und der Hörer muß fühlen, was gemeint ist. Ein anderes Sprechen gibt es nicht und eben deshalb haben Gebärde und Ton am Verständnis des heutigen Sprechens einen weitaus größeren Anteil, als man gewöhnlich annimmt.
Das letzte große Ereignis in dieser Geschichte, mit welchem die Bildung der Wortsprache gewissermaßen zum Abschluß gelangt, ist die Entstehung des Verbums. Sie setzt bereits einen sehr hohen Grad von Abstraktion voraus, denn Substantiva sind Worte, welche im Lichtraum sinnlich abgegrenzte Dinge – »Unsichtbares« ist ebenfalls abgegrenzt – auch für das Nachdenken herausheben; Verba bezeichnen aber Typen der Veränderung, die nicht gesehen, sondern aus dem grenzenlosen Bewegtsein der Lichtwelt durch Absehen von den besonderen Merkmalen des einzelnen Falles festgestellt und als Begriffe erzeugt werden. »Fallender Stein« ist eine ursprüngliche Einheit des Eindrucks. Hier wird aber zunächst Bewegung und Bewegtes getrennt und dann »fallen« als eine
Art von Bewegung
aus zahllosen anderen mit unzähligen Übergängen – sinken, schweben, stürzen, gleiten – abgegrenzt. Den Unterschied »sieht« man nicht; er wird »erkannt«. Substantivische Zeichen kann man sich für manche Tiere vielleicht noch vorstellen, verbale aber nicht. Der Unterschied von Fliehen und Laufen oder Fliegen und Gewehtwerden geht weit über das Gesehene hinaus und ist nur für ein wortgewohntes Wachsein faßbar. Es liegt ihm etwas Metaphysisches zugrunde. Aber mit dem »Denken in Zeitwörtern« ist nun auch das Leben selbst dem Nachdenken erreichbar geworden. Von dem lebendigen Eindruck auf das Wachsein, dem Werden – das die Gebärdensprache ganz unproblematisch nachahmt und das an sich also unberührt bleibt – wird das Einmalige, also das Leben selbst, unvermerkt abgesondert und der Rest als Wirkung einer Ursache (der Wind weht, es blitzt, der Bauer pflügt) mit lauter extensiven Bestimmungen dem Zeichensystem eingeordnet. Man muß sich ganz in die starren Unterscheidungen von Subjekt und Prädikat, Aktivum und Passivum, Präsens und Perfektum versenken, um zu sehen, wie hier der Verstand die Sinne meistert und das Wirkliche entseelt. Bei Substantiven darf man das Denkding (Vorstellung) als
Abbild
des Sehdinges betrachten, beim Verbum ist aber für etwas Organisches
etwas Anorganisches eingesetzt
worden. Die Tatsache, daß wir leben, nämlich daß wir jetzt eben etwas wahrnehmen, wird zur Dauer
als einer Eigenschaft
des Wahrgenommenen; verbal gedacht: das Wahrgenommene dauert an. Es »ist«. So bilden sich endlich die Kategorien des Denkens, abgestuft nach dem, was ihm natürlich ist und was nicht; so erscheint die Zeit als Dimension, das Schicksal als Ursache, das Lebendige als chemischer oder psychischer Mechanismus. So entsteht der Stil des mathematischen, juristischen, dogmatischen Denkens.
Damit ist jener Zwiespalt gegeben, der uns vom Wesen des Menschen unzertrennlich erscheint und der doch nur ein Ausdruck der Beherrschung seines Wachseins durch die Wortsprache ist. Dieses Mittel der Verbindung zwischen Ich und Du hat durch seine Vollkommenheit aus dem tierischen Verstehen des Empfindens ein das Empfinden bevormundendes Denken in Worten gemacht. Grübeln heißt, mit sich selbst in Wortbedeutungen verkehren. Es ist die Tätigkeit, die
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