Der Untergang des Abendlandes
Religion in diesem Sinne heißt religiöses
Denken
. Es ist die neue Verfassung des vom Empfinden abgelösten schöpferischen Verstehens. Mit einer sehr bezeichnenden Wendung sagen wir »
über
etwas nachdenken«. Mit dem Verstehen benannter Dinge ist
über
allem Empfindungswesen eine
höhere
Welt in Bildung begriffen, höher in klarer Symbolik und Beziehung auf die Lage des Kopfes, den der Mensch als die Heimat seiner Gedanken oft in schmerzhafter Deutlichkeit spürt. Sie gibt dem Urgefühl der Angst ein Ziel und den Blick auf eine Befreiung. Von diesem religiösen Urdenken ist alles philosophische, gelehrte, wissenschaftliche Denken später Zeiten bis in seine letzten Gründe abhängig geblieben.
Wir haben uns die ersten Namen als ganz vereinzelte Elemente im Zeichenbestand hoch entwickelter Laut- und Gebärdensprachen zu denken, von deren Reichtum und Ausdrucksfähigkeit wir keine Vorstellung mehr besitzen, seit die Wortsprachen alle anderen Mittel von sich abhängig gemacht und deren Weiterbildung nur in Rücksicht auf sich selbst geleitet haben. [Die heutigen Gebärdensprachen (Delbrück, Grundfragen d. Sprachforschung, S. 49 ff., mit dem Hinweis auf das Werk von Jorio über die Gesten der Neapolitaner) setzen sämtlich die Wortsprache voraus und sind von deren gedanklicher Systematik vollkommen abhängig, so z. B. die, welche die nordamerikanischen Indianer ausgebildet haben, um sich bei der großen Verschiedenheit und Veränderlichkeit der einzelnen Wortsprachen von Stamm zu Stamm verständigen zu können (Wundt, Völkerpsychologie I, S. 212. Mit dieser Sprache ist es möglich, folgenden komplizierten Satz auszudrücken: »Weiße Soldaten, die von einem Offizier von hohem Range, aber geringer Intelligenz geführt wurden, nahmen die Mescalero-Indianer gefangen«), oder die Mimik der Schauspieler.] Eins aber war bereits gesichert, als mit dem Namen eine Umwendung und Durchgeistigung der Mitteilungstechnik begann: die Herrschaft des Auges über die anderen Sinne. Der Mensch war wach in einem Lichtraum, sein Tiefenerlebnis war eine Ausstrahlung des Sehens zu den Lichtquellen und Lichtwiderständen, er empfand sein Ich als einen Mittelpunkt im Lichte. Die Alternative Sichtbares und Unsichtbares beherrscht durchaus dasjenige Verstehen, in welchem die ersten Namen entstanden sind. Waren vielleicht die ersten
numina
Dinge der Lichtwelt, welche man empfand, hörte, in ihren Wirkungen beobachtete,
aber nicht sah
? Die Gruppe der Namen hat ohne Zweifel wie alles, was im Weltgeschehen Epoche macht, eine sehr schnelle und gewaltige Ausbildung erfahren. Die gesamte Lichtwelt, in der jedes Ding die Eigenschaften der Lage und Dauer im Raume besitzt, wurde mit allen Spannungen zwischen Ursache und Wirkung, Ding und Eigenschaft, Ding und Ich sehr bald mit zahllosen Namen bezeichnet und damit im Gedächtnis befestigt. Denn was wir heute Gedächtnis nennen, ist die Fähigkeit,
Benanntes
mittelst der Namen für das Verstehen aufzubewahren. Es entsteht über dem Reich der verstandenen Sehdinge ein geistigeres Reich der Benennungen, das mit jenem die logische Eigenschaft teilt, rein extensiv, polar geordnet und vom Kausalprinzip beherrscht zu sein. Alle – sehr viel später entstehenden – Wortgebilde wie Kasus, Pronomina, Präpositionen haben einen kausalen oder lokalen Sinn in bezug auf benannte Einheiten; Adjektiva und auch Verba sind vielfach in Gegensatzpaaren entstanden; es ist oft wie in der von Westermann untersuchten Ewesprache anfangs dasselbe Wort, das tief oder hoch gesprochen wird, um etwa groß und klein, fern und nah, passiv und aktiv zu bezeichnen. Später geht dieser Rest von Gebärdensprache ganz in der Wortform auf, wie es im griechischen ìáêñüò
und ìéêñüò und den U-Lauten in ägyptischen Bezeichnungen des Leidens noch deutlich erkennbar ist. Es ist die Form des Denkens in Gegensätzen, die von gegensätzlichen Wortpaaren ausgehend der gesamten anorganischen Logik zugrunde liegt und jedes wissenschaftliche Finden von Wahrheiten zu einer Bewegung in begrifflichen Gegensätzen macht, unter denen der zwischen einer alten Ansicht als Irrtum und einer neuen als Wahrheit immer der vorwaltende ist.
Die zweite große Wendung erfolgt
mit dem Entstehen der Grammatik
. Indem zum Namen der Satz, zum Wortzeichen die Wortverbindung tritt, wird das Nachdenken – das Denken in Wortbeziehungen, nachdem man etwas wahrgenommen hat, wofür es Wortbezeichnungen gibt – für den Charakter des menschlichen Wachseins
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