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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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und Abgezweigtes, eine letzte Blüte am Stamme der Lautsprachen und nicht etwa ein junges Gewächs.
    Eine reine Wortsprache gibt es in Wirklichkeit überhaupt nicht. Niemand spricht, ohne außer dem starren Wortbestand in Betonung, Takt und Mienenspiel noch ganz andere Spracharten anzuwenden, die viel ursprünglicher und mit der angewendeten Wortsprache im Gebrauch vollständig verwachsen sind. Man muß sich vor allem hüten, das in seinem Bau äußerst verwickelte Reich heutiger Wortsprachen für eine innere Einheit mit einheitlicher Geschichte zu halten. Jede uns bekannte Wortsprache hat sehr verschiedene Seiten und diese haben ihre
eigenen
Schicksale innerhalb der Gesamtgeschichte. Es gibt keine Sinnesempfindung, die für die Geschichte des Wortgebrauchs ganz belanglos gewesen wäre. Man muß auch sehr streng zwischen Laut- und Wortsprache unterscheiden; die erste ist selbst sehr einfachen Tiergattungen schon geläufig, diese ist zwar nur in einzelnen, aber desto bedeutsameren Zügen etwas grundsätzlich anderes. In jeder tierischen Lautsprache sind ferner Ausdrucksmotive (Brunstschrei) und Mitteilungszeichen (Warnungsschrei) deutlich zu unterscheiden und das gilt sicherlich auch von den frühesten Worten, aber ist die Wortsprache nun als Ausdrucks- oder als Mitteilungssprache
entstanden
? War sie in sehr frühen Zuständen von irgendwelchen Sprachen fürs Auge (Bild, Geste) verhältnismäßig unabhängig? Auf solche Fragen gibt es keine Antwort, weil wir von den Vorformen des eigentlichen »Wortes« keine Ahnung haben. Die Forschung ist recht naiv, wenn sie das, was wir heute primitive Sprache nennen und was nur unvollkommene Gebilde sehr später Sprachzustände sind, zu Schlüssen auf den Ursprung der Worte benützt. Das Wort ist in ihnen ein längst feststehendes, hochentwickeltes und selbstverständliches Mittel, aber gerade das gilt von dem »Ursprung«
nicht
.
    Das Zeichen, mit welchem ohne Zweifel die Möglichkeit zur Ablösung der künftigen Wortsprachen aus den allgemein tierischen Lautsprachen gegeben war, nenne ich
Namen
und verstehe darunter ein Lautgebilde, das als Kennzeichen eines als wesenhaft empfundenen Etwas in der Umwelt dient, welches durch die Benennung zum
numen
geworden ist. Wie diese ersten Namen beschaffen waren, darüber nachzudenken ist überflüssig. Keine uns noch erreichbare Menschensprache gibt den leisesten Anhaltspunkt dafür. Aber das halte ich im Gegensatz zur modernen Forschung für das Entscheidende: nicht eine Veränderung des Kehlkopfes oder eine besondere Art der Lautbildung oder sonst etwas Physiologisches, das in Wirklichkeit Rassemerkmal ist, liegt hier vor – wenn dergleichen damals überhaupt eingetreten ist – und auch nicht eine Steigerung der Ausdrucksfähigkeit der vorhandenen Mittel, etwa der Übergang vom Wort zum Satz (H. Paul), [Satzartige Lautkomplexe kennt auch der Hund. Wenn der australische Dingo mit dem Rückschritt vom Haustier zum Raubtier auch wieder vom Bellen zum Wolfsgeheul übergegangen ist, so darf man das wohl als einen Übergang zu sehr viel einfacheren Lautzeichen deuten, aber mit »Worten« hat es nichts zu tun.] sondern eine tiefe Verwandlung der Seele: mit dem Namen ist ein neuer Blick auf die Welt entstanden. Ist das Sprechen überhaupt aus der Angst geboren, aus einer unergründlichen Scheu vor den Tatsachen des Wachseins, die alle Wesen zueinander treibt und die Nähe des andern durch Eindrücke bezeugt sehen will, so erscheint hier eine mächtige Steigerung. Mit dem Namen ist gleichsam
der Sinn
des Wachseins und
die Quelle
der Angst angerührt worden. Die Welt ist nicht nur da; man fühlt ein Geheimnis in ihr. Man benennt über alle Zwecke der Ausdrucks- und Mitteilungssprache hinaus das,
was rätselhaft ist
. Ein Tier kennt keine Rätsel. Man kann sich die ursprüngliche Namengebung nicht feierlich und ehrfürchtig genug denken. Man soll den Namen nicht immer nennen, man soll ihn geheim halten, es liegt eine gefährliche Macht in ihm.
Mit dem Namen ist der Schritt von der alltäglichen Physik des Tieres zur Metaphysik des Menschen vollzogen.
Es war die größte Wendung in der Geschichte der menschlichen Seele. Die Erkenntnistheorie pflegt Sprache und Denken nebeneinander zu stellen, und wenn man allein die heute noch erreichbaren Sprachen beachtet, trifft das zu. Ich glaube aber, daß man viel tiefer greifen kann: mit dem Namen ist die eigentliche, bestimmte Religion innerhalb einer formlosen, allgemein religiösen Scheu entstanden.

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