Der Untergang des Abendlandes
erhielten. Ich rate jedem, die fränkische Geschichte des Gregor von Tours (bis 591) und daneben die entsprechenden Abschnitte bei dem altväterischen Karamsin zu lesen, vor allem die über Iwan den Schrecklichen, Boris Godunow und Schuiski. Die Ähnlichkeit kann nicht größer sein. Auf diese Moskowiterzeit der großen Bojarengeschlechter und Patriarchen, in der beständig eine altrussische Partei gegen die Freunde westlicher Kultur kämpfte, folgt mit der Gründung von Petersburg (1703) die Pseudomorphose, welche die primitive russische Seele erst in die fremden Formen des hohen Barock, dann der Aufklärung, dann des 19. Jahrhunderts zwang. Peter der Große ist das Verhängnis des Russentums geworden. Man denke sich seinen »Zeitgenossen« Karl den Großen, der planmäßig und mit seiner ganzen Energie das durchsetzt, was Karl Martell durch seinen Sieg soeben verhindert hatte: die Herrschaft des maurisch-byzantinischen Geistes. Es bestand die Möglichkeit, die russische Welt nach Art entweder der Karolinger oder der Seleukiden zu behandeln, altrussisch nämlich oder »westlerisch«, und die Romanows haben sich für das letzte entschieden. Die Seleukiden wollten Hellenen, nicht Aramäer um sich sehen.
Der primitive Zarismus von Moskau ist die einzige Form, welche noch heute dem Russentum gemäß ist, aber er ist in Petersburg in die dynastische Form Westeuropas umgefälscht worden. Der Zug nach dem heiligen Süden, nach Byzanz und Jerusalem, der tief in allen rechtgläubigen Seelen lag, wurde in eine weltmännische Diplomatie mit dem Blick nach Westen verwandelt. Auf den Brand von Moskau, die großartig symbolische Tat eines Urvolkes, aus welcher der Makkabäerhaß gegen alles Fremde und Fremdgläubige redet, folgt der Einzug Alexanders in Paris, die heilige Allianz und die Stellung im Konzert der westlichen Großmächte. Ein Volkstum, dessen Bestimmung es war, noch auf Generationen hin geschichtslos zu leben, wurde in eine künstliche und unechte Geschichte gezwängt, deren Geist vom Urrussentum gar nicht begriffen werden konnte. Späte Künste und Wissenschaften wurden hereingetragen, Aufklärung, Sozialethik, weltstädtischer Materialismus, obwohl in dieser Vorzeit Religion die einzige Sprache war, in der man sich und die Welt verstand; in das stadtlose Land mit seinem ursprünglichen Bauerntum nisteten sich Städte fremden Stils wie Geschwüre ein. Sie waren falsch, unnatürlich, unwahrscheinlich bis in ihr Innerstes. »Petersburg ist die abstrakteste und künstlichste Stadt, die es gibt«, bemerkt Dostojewski. Er hatte, obwohl er dort geboren war, ein Gefühl, als ob sie sich eines Morgens mit den Sumpfnebeln zugleich auflösen könnte. So, geisterhaft, unglaubwürdig, lagen auch die hellenistischen Prunkstädte überall im aramäischen Bauernland. So hat Jesus sie in seinem Galiläa gesehen. So muß Petrus empfunden haben, als er das kaiserliche Rom erblickte.
Alles was rings umher entstand, ist von dem echten Russentum seitdem als Gift und Lüge empfunden worden. Ein wahrhaft apokalyptischer Haß richtet sich gegen Europa auf. Und »Europa« war alles, was nicht russisch war, auch Rom und Athen, ganz wie für den magischen Menschen damals auch das alte Ägypten und Babylon antik, heidnisch, teuflisch war. »Die erste Bedingung der Befreiung des russischen Volksgefühls ist: von ganzem Herzen und aus voller Seele Petersburg zu hassen«, schreibt Aksakow 1863 an Dostojewski. Moskau ist heilig, Petersburg ist der Satan; Peter der Große erscheint in einer verbreiteten Volkslegende als der Antichrist. Genau so redet es aus allen Apokalypsen der aramäischen Pseudomorphose, vom Buche Daniel und Henoch zur Makkabäerzeit bis auf die Offenbarung Johannis, Baruch und den IV. Esra nach der Zerstörung Jerusalems, gegen Antiochus, den Antichrist, gegen Rom, die babylonische Hure, gegen die Städte des Westens mit ihrem Geist und Pomp, gegen die gesamte antike Kultur. Alles was entsteht, ist unwahr und unrein: diese verwöhnte Gesellschaft, die durchgeistigten Künste, die sozialen Stände, der fremde Staat mit seiner zivilisierten Diplomatie, Rechtsprechung und Verwaltung. Es gibt keinen größeren Gegensatz als russischen und abendländischen, jüdisch-christlichen und spätantiken Nihilismus: den Haß gegen das Fremde, das die noch ungeborene Kultur im Mutterschoß des Landes vergiftet, und den Ekel vor der eignen, deren Höhe man endlich satt ist. Tiefstes religiöses Weltgefühl, plötzliche Erleuchtungen,
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