Der Untergang des Abendlandes
Schauder der Furcht vor dem kommenden Wachsein, metaphysisches Träumen und Sehnen stehen am Anfang, bis zum Schmerz gesteigerte geistige Klarheit am Ende der Geschichte. In diesen beiden Pseudomorphosen mischen sie sich. »Alle grübeln sie jetzt auf den Straßen und Marktplätzen über den Glauben«, heißt es bei Dostojewski. Das hätte auch von Jerusalem und Edessa gesagt werden können. Diese jungen Russen vor dem Kriege, schmutzig, bleich, erregt, in Winkeln hockend und immer mit Metaphysik beschäftigt, alles mit den Augen des Glaubens betrachtend, selbst wenn sich das Gespräch dem Anschein nach um Wahlrecht, Chemie oder Frauenstudium bewegte – das sind die Juden und Urchristen der hellenistischen Großstädte, die der Römer mit so viel Spott, Widerwillen und heimlicher Furcht betrachtete. Es gab im zarischen Rußland kein Bürgertum, überhaupt keine echten Stände, sondern nur Bauern und »Herren« wie im Frankenreiche. Die »Gesellschaft« war eine Welt für sich, das Produkt einer westlerischen Literatur, etwas Fremdes und Sündhaftes. Es gab keine russischen Städte. Moskau war eine Pfalz – der Kreml –, um den sich ein riesenhafter Markt ausbreitete. Die Scheinstadt, die sich hineindrängt und herumlagert, und alle die andern auf dem Boden des Mütterchen Rußland, sind des Hofes, der Verwaltung, der Kaufleute wegen da; aber was in ihnen lebt, ist oben eine fleischgewordne Literatur, die »Intelligenz« mit angelesenen Problemen und Konflikten, und in der Tiefe entwurzeltes Bauernvolk mit all der metaphysischen Trauer, Angst und dem Elend, das Dostojewski mit ihm erlebt hat, mit dem beständigen Heimweh nach der weiten Erde und dem bitteren Haß gegen die steinerne greisenhafte Welt, in die der Antichrist sie verlockt hatte. Moskau besaß keine eigene Seele. Die Gesellschaft war von westlichem Geist und das Volk unten führte die Seele des Landes mit sich. Zwischen beiden Welten gab es kein Verstehen, keine Vermittlung, keine Verzeihung. Will man die beiden großen Fürsprecher und Opfer der Pseudomorphose verstehen, so war Dostojewski ein Bauer, Tolstoi ein Mensch der weltstädtischen Gesellschaft. Der eine konnte sich innerlich vom Lande nie befreien, der andere hat es trotz allen verzweifelten Bemühens niemals gefunden.
Tolstoi ist das vergangene, Dostojewski das kommende Rußland.
Tolstoi ist mit seinem ganzen Innern dem Westen verbunden. Er ist der große Wortführer des Petrinismus, auch wenn er ihn verneint. Es ist stets eine westliche Verneinung. Auch die Guillotine war eine legitime Tochter von Versailles. Sein mächtiger Haß redet gegen das Europa, von dem er selbst sich nicht befreien kann. Er haßt es in sich, er haßt sich. Er wird damit der Vater des Bolschewismus. Die ganze Ohnmacht dieses Geistes und »
seiner
« Revolution von 1917 spricht aus den nachgelassenen Szenen: »Das Licht leuchtet in der Finsternis«. Diesen Haß kennt Dostojewski nicht. Er hat alles Weltliche mit einer ebenso leidenschaftlichen Liebe umfaßt. »Ich habe zwei Vaterländer, Rußland und Europa«. Für ihn hat das alles, Petrinismus und Revolution, bereits keine Wirklichkeit mehr. Aus
seiner
Zukunft blickt er wie aus weiter Ferne darüber hin. Seine Seele ist apokalyptisch, sehnsüchtig, verzweifelt, aber dieser Zukunft gewiß. »Ich werde nach Europa fahren«, sagt Iwan Karamasoff zu seinem Bruder Aljoscha, »ich weiß es ja, daß ich nur auf einen Friedhof fahre, doch auf den teuersten, allerteuersten Friedhof, das weiß ich auch. Teure Tote liegen dort begraben, jeder Stein über ihnen redet von einem so heißen vergangenen Leben, von so leidenschaftlichem Glauben an die vollbrachten eigenen Taten, an die eigene Wahrheit, an den eigenen Kampf und die eigene Erkenntnis, daß ich, ich weiß es im voraus, zur Erde niederfallen, diese Steine küssen und über ihnen weinen werde.« Tolstoi ist durchaus ein großer Verstand, »aufgeklärt« und »sozial gesinnt«. Alles was er um sich sieht, nimmt die späte, großstädtische und westliche Form eines Problems an. Dostojewski weiß gar nicht, was Probleme sind. Jener ist ein Ereignis innerhalb der europäischen Zivilisation. Er steht in der Mitte zwischen Peter dem Großen und dem Bolschewismus. Die russische Erde haben sie alle nicht zu Gesicht bekommen. Was sie bekämpfen, wird durch die Form, in der sie es tun, doch wieder anerkannt. Das ist nicht Apokalyptik, sondern geistige Opposition. Sein Haß gegen den Besitz ist nationalökonomischer, sein Haß
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