Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
Vom Netzwerk:
Dämonen verloren ging. Aber diese Wirkung der Furcht ist doch nicht alles und nicht einmal das Mächtigste. Warum hat die Merowingerzeit nicht die leisesten Spuren jener glühenden Inbrunst und Sehnsucht nach dem Untergang im Metaphysischen aufzuweisen, welche die magische Vorzeit der Apokalyptik und die ihr so nah verwandte russische im Zeitalter des heiligen Synod (1721–1917) ausfüllt? Was ist es, das alle die Märtyrersekten der Raskolniken seit Peter dem Großen zur Ehelosigkeit, Armut und Pilgerfahrt, zu Selbstverstümmelungen, zu den furchtbarsten Formen der Askese führte und im 17. Jahrhundert Tausende aus religiöser Leidenschaft zu freiwilliger Selbstverbrennung getrieben hat? Die Lehre der Chlüsten von den »russischen Christussen«, deren bis jetzt sieben gezählt werden, die Duchoborzen mit ihrem Lebensbuch, das sie als Bibel benützen und das von Jesus mündlich überlieferte Psalmen enthalten soll, die Skopzen mit ihren grausigen Verstümmelungsgeboten, Dinge, ohne die Tolstoi, der Nihilismus und die politischen Revolutionen gar nicht verständlich [Kattenbusch, Lehrb. d. vgl. Konfessionsk. I(1892), S. 234 ff. N. P. Miljukow, Skizz. russ. Kulturgesch. (1901) II, S. 104 ff.] sind – warum erscheint die Frankenzeit dem gegenüber so stumpf und flach? Ist es richtig, daß nur Aramäer und Russen religiöses Genie besitzen, und was hat man dann von dem kommenden Rußland zu erwarten, jetzt, wo gerade im entscheidenden Jahrhundert das Hemmnis der gelehrten Orthodoxie zerstört worden ist?
17
    Primitive Religionen haben etwas Heimatloses wie Wolken und Winde. Die Massenseelen der Urvölker haben sich zufällig und flüchtig zu
einem
Dasein geballt, und zufällig bleibt das Irgendwo der Wachseinsverbindungen aus Angst und Abwehr, die sich darüber breiten. Ob sie bleiben oder wandern, ob sie sich ändern oder nicht, hat mit ihrer innern Bedeutung nichts zu tun.
    Eine tiefe Erdverbundenheit trennt die hohen Kulturen von diesem Leben ab. Hier gibt es eine
Mutterlandschaft
aller Ausdrucksgebilde, und wie die Stadt, wie Tempel, Pyramide und Dom dort, wo ihre Idee entstanden ist, auch ihre Geschichte vollenden
müssen
, so ist die große Religion jeder Frühzeit mit allen Wurzeln des Daseins dem Lande verbunden, über dem ihr Weltbild sich erhebt. Mögen die heiligen Bräuche und Sätze später noch so weit getragen werden, ihre innere Entwicklung bleibt trotzdem an den Ort ihrer Geburt gebannt. Es ist ganz unmöglich, daß sich auch nur der leiseste Entwicklungszug antiker Stadtkulte in Gallien fände oder ein dogmatischer Schritt des faustischen Christentums in Amerika getan würde. Was sich vom Lande löst, wird starr und hart.
    Wie ein Aufschrei beginnt es jedesmal. Das dumpfe Gefühl von Scheu und Abwehr geht plötzlich in ein reines und inbrünstiges Erwachen über, das von der Mutter Erde aus, ganz pflanzenhaft aufblühend, die Tiefe der Lichtwelt mit
einem
Blick umfaßt und begreift. Wo überhaupt ein Sinn für Selbstbetrachtung lebt, hat man diese Wandlung als innere Wiedergeburt empfunden und begrüßt. In diesem Augenblick, niemals früher und mit der gleichen Macht und Innigkeit niemals wieder, geht es wie ein großes Leuchten durch die auserwählten Geister der Zeit, das alle Furcht in seliger Liebe auflöst und das Unsichtbare plötzlich in metaphysischer Verklärung hervortreten läßt.
    Jede Kultur verwirklicht hier ihr Ursymbol. Jede hat ihre Art von Liebe, nennen wir sie himmlisch oder metaphysisch, mit der sie ihre Gottheit schaut, umfaßt, in sich aufnimmt, und die allen andern unerreichbar oder unverständlich bleibt. Mag eine Lichthöhle die Welt überwölben wie vor dem Blick Jesu und seiner Begleiter, mag die kleine Erde in einer sternerfüllten Unendlichkeit verschwinden, wie es Giordano Bruno empfand, mögen die Orphiker den leibhaftigen Gott in sich aufnehmen, mag Plotins Geist mit dem Geiste Gottes in der Ekstase zur Henosis verschmelzen, mag der heilige Bernhard in der Unio mystica mit dem Wirken der unendlichen Gottheit eins werden – der Tiefendrang der Seele ist immer dem Ursymbol dieser einen und keiner andern Kultur unterworfen.
    In der fünften Dynastie Ägyptens (2450–2320), welche auf die großen Pyramidenbauer folgt, verblaßt der Kult des Horusfalken, dessen Ka im regierenden Herrscher weilt. Die älteren Ortskulte und selbst die tiefsinnige Thoutreligion von Hermopolis treten zurück. Die Sonnenreligion des Re erscheint. Von seiner Pfalz aus westwärts errichtet

Weitere Kostenlose Bücher