Der Untergang des Abendlandes
zeitlose, geschichtslose Caritas, in welcher die Furcht vor dem All sich ganz in reine, fleckenlose Liebe verwandelt hat, eine Höhe der kausalen Moral, deren späte Zeiten überhaupt nicht mehr fähig sind.
Um sein Blut zu bezwingen, muß man welches haben. Deshalb gibt es ein Mönchtum großen Stils nur in ritterlichen und kriegerischen Zeiten, und das höchste Symbol für den vollkommenen Sieg des Raumes über die Zeit ist der zum Asketen gewordene Krieger, nicht der geborene Träumer und Schwächling, der von Natur ins Kloster gehört, oder der Gelehrte, der in seiner Stube an einem Moralsystem baut. Man sei doch kein Heuchler – was heute sich Moral nennt, die maßvolle Nächstenliebe und die Betätigung anständiger Gesinnungen oder die Ausübung der Caritas mit dem Hintergedanken der Erwerbung politischer Macht, ist nach dem Maßstabe der Frühzeit nicht einmal Rittersinn von irgendwelchem Rang. Noch einmal: eine große Moral gibt es nur im Hinblick auf den Tod, aus einer das ganze Wachsein erfüllenden Furcht vor metaphysischen Gründen und Folgen, aus einer Liebe, die das Leben überwindet, aus dem Bewußtsein, unentrinnbar im Banne eines kausalen Systems heiliger Gebote und Zwecke zu stehen, das man als wahr verehrt und dem man ganz angehören oder ganz entsagen muß. Eine beständige Spannung, Selbstbeobachtung, Selbstprüfung begleitet die Ausübung dieser Moral, die eine Kunst ist und neben der die Welt als Geschichte zu nichts versinkt. Man sei Held oder Heiliger. In der Mitte liegt nicht die Weisheit, sondern die Alltäglichkeit.
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Gäbe es Wahrheiten abgelöst von den Daseinsströmen, so könnte es keine Geschichte der Wahrheit geben. Gäbe es eine einzige, ewig richtige Religion, so wäre Religionsgeschichte eine unmögliche Vorstellung. Aber mag die mikrokosmische Lebensseite eines Einzelwesens noch so mächtig entwickelt sein, sie liegt dem werdenden Leben doch wie eine Haut an, durchschauert vom Takt des Blutes und ein beständiges Zeugnis von den verborgenen Trieben kosmischen Gerichtetseins. Die Rasse beherrscht und formt das gesamte Begreifen. Die Zeit verschlingt den Raum – das ist das Schicksal jedes wachen Augenblicks.
Trotzdem gibt es »ewige Wahrheiten«. Jeder Mensch besitzt sie in Menge, insofern er verstehend sich in einer Gedankenwelt befindet, in deren Zusammenhang sie unveränderlich feststehen, nämlich »eben jetzt«, im Augenblick des Denkens, nach Grund und Folge, Ursache und Wirkung eisern verklammert. Nichts in dieser Ordnung kann sich verlagern, wie er glaubt, aber eine Woge des Lebens hebt sein waches Ich
und
seine Welt. Der Einklang bleibt, aber er hat
als Ganzes, als Tatsache
eine Geschichte. Absolut und relativ verhalten sich wie Querschnitt und Längsschnitt einer Generationenfolge: der zweite sieht vom Räume ab, der erste aber von der Zeit. Wer systematisch denkt, bleibt in der kausalen Ordnung eines Augenblicks. Nur wer physiognomisch die Folge der Einstellungen überblickt, erkennt die beständige Veränderung dessen, was wahr ist.
Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis – das gilt auch von den ewigen Wahrheiten, sobald man ihrer Bahn im Strom der Geschichte folgt, wo sie eingeschlossen im Weltbilde lebender und sterbender Geschlechter weitertreiben. Für jeden Menschen und seines Daseins kurze Spanne ist die eine Religion ewig und wahr, die das Schicksal ihm durch Ort und Zeit seiner Geburt bestimmt hat. Mit ihr fühlt er, aus ihr bildet er die Anschauungen und Überzeugungen seiner Tage. An ihren Worten und Formen hält er fest, obwohl er sie beständig anders meint. Ewige Wahrheiten gibt es in der Welt als Natur; in der Welt als Geschichte gibt es ein ewig wechselndes Wahrsein.
Eine
Morphologie der Religionsgeschichte
ist deshalb eine Aufgabe, die nur der faustische Geist sich stellen und nur auf seiner gegenwärtigen Stufe lösen kann. Die Forderung ist gegeben; der Versuch, sich ganz von der eignen Überzeugung abzulösen, um sie alle als gleichmäßig fremd vor sich zu sehen, muß gewagt werden. Wie schwer ist das! Wer es unternimmt, muß die Kraft besitzen, nicht nur scheinbar aus den Wahrheiten seines Weltverstehens herauszutreten, seien sie für ihn auch nur als Summe von Begriffen und Methoden vorhanden, sondern wirklich das eigne System bis auf den letzten Rest physiognomisch zu durchdringen. Und ist es ihm selbst dann überhaupt möglich, in einer einzigen Sprache, die doch in ihrem Bau und Geist die ganze geheime Metaphysik seiner Kultur
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