Der Untergang des Abendlandes
enthält, mitteilbare Einsichten über die Wahrheiten anders sprechender Menschen zu gewinnen?
Da ist zuerst, über die Jahrtausende des ersten Zeitalters hin, [Vgl. Bd. II, S. 593.] das dumpfe Gefühl primitiver Bevölkerungen, die in eine chaotische Umwelt starren, deren drückende Rätsel ihnen, ohne daß irgend jemand ihrer logisch Herr werden könnte, stets gegenwärtig sind. Selig ist ihnen gegenüber das Tier, das wach ist, aber nicht denkt. Ein Tier ängstigt sich nur vor einzelnen Gefahren, der frühe Mensch zittert vor der ganzen Welt. Dunkel und ungelöst bleibt alles in und außer ihm. Das Alltägliche und das Dämonische sind unentwirrbar und regellos verstrickt. Eine furchtsame und peinliche Religiosität erfüllt den Tag, und um so seltener ist auch nur die Andeutung einer vertrauenden Religion. Denn aus dieser elementaren Form der Weltangst führt kein Weg zur verstehenden Liebe. Jeder Stein, auf den man tritt, jedes Werkzeug, das man zur Hand nimmt, jedes Insekt, das vorüberschwirrt, die Nahrung, das Haus, das Wetter können dämonisch sein, aber man glaubt an die in ihnen lauernden Mächte nur, solange sie schrecken oder solange
man sie braucht
. Es sind ihrer auch so genug. Lieben kann man nur etwas, an dessen
dauerndes
Dasein man glaubt. Liebe setzt das Denken einer Weltordnung voraus, die Festigkeit gewonnen hat. Die abendländische Forschung hat sich viel Mühe gegeben, Einzelbeobachtungen aus allen Weltteilen zu ordnen und zwar nach vermeintlichen Stufen, die vom Seelenglauben oder irgend einem andren Anfang zu ihrem eigenen Glauben »hinaufführen«. Leider haben sie das Schema nach den Wertschätzungen einer einzelnen Religion entworfen, und Chinesen oder Griechen würden es ganz anders gemacht haben. Aber eine solche Stufenfolge, die eine allgemeine Entwicklung auf ein Ziel hin voraussetzt, gibt es überhaupt nicht. Die chaotische, aus dem jeweiligen Verstehen des einzelnen Augenblicks geborne und doch sinnvolle Umwelt primitiver Menschen ist stets etwas Gewachsenes und in sich selbst Vollkommenes und Abgeschlossenes, oft von einer jähen und schauerlichen Tiefe metaphysischer Ahnung. Sie enthält immer ein System, und es macht wenig aus, ob es aus dem Schauen der Lichtwelt teilweise abgezogen oder ganz darin verblieben ist. Ein solches Weltbild »schreitet nicht fort« und ebensowenig ist es eine feststehende Summe von Einzelzügen, aus der man ohne Rücksicht auf Zeit, Land und Volk den einen oder andern herausnehmen und vergleichen dürfte, wie es gewöhnlich geschieht. Sie bilden vielmehr
eine Welt von organischen Religionen
, die über die ganze Erde hin eigene und sehr bezeichnende Arten des Entstehens, Reifens, Sichverbreitens und Vergehens und eine vollkommene Eigenart in Aufbau, Stil,Tempo und Dauer besaßen und in ihren letzten Gebieten heute noch besitzen. Die Religionen der hohen Kulturen sind nicht entwickelter, sondern anders. Sie liegen heller und geistiger im Lichte da, sie kennen die verstehende Liebe, sie haben Probleme und Ideen, strenggeistige Theorien und Techniken, aber die religiöse Symbolik des gesamten Alltagslebens kennen sie nicht mehr. Die primitive Religiosität durchdringt alles, die späten Einzelreligionen sind geschlossene Formenwelten für sich.
Um so rätselhafter sind die Vorzeiten der großen Kulturen, durch und durch primitiv noch, aber mit steigender Deutlichkeit vorwegnehmend und in eine bestimmte Richtung weisend. Gerade diese Zeiten vom Umfang mehrerer Jahrhunderte sollten für sich genau untersucht und verglichen werden. In welcher Gestalt bereitet sich da das Kommende vor? Die magische Vorzeit hat, wie wir sahen, den Typus der prophetischen Religionen hervorgebracht, der zur Apokalyptik hinüberleitet. Worin ist gerade
diese
Form im Wesen
dieser
Kultur tiefer begründet? Oder weshalb ist die mykenische Vorzeit der Antike mit den Vorstellungen tiergestaltiger Gottheiten ganz und gar erfüllt? [Ist das hochzivilisierte Kreta darin als Vorposten ägyptischer Denkweise vorbildlich gewesen (S. 656)? Aber die zahlreichen Orts- und Stammesgötter der primitiven Thinitenzeit (vor 3000), welche die Numina einzelner Tier
gattungen
darstellten, hatten doch wohl eine wesentlich andere Bedeutung. Die ägyptische Gottheit dieser Vorzeit besitzt, je mächtiger sie ist, um so zahlreichere Einzelgeister (
ka
) und Einzelseelen (
bai
), die überall in den einzelnen Tieren verborgen sind und lauern, Bastet in den Katzen, Sechmet in den Löwen, Hathor in den
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