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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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großen Frühzeit finden wollen. Das ist die zweite Schwierigkeit.
Auch die große Frühreligion war Standesbesitz
und dem breiten Volke weder erreichbar noch verständlich; auch die Mystik der frühesten Gotik ist auf enge Kreise von Auserwählten beschränkt, durch das Latein und die Schwere der Begriffe und Bilder versiegelt und weder dem Bauerntum noch dem Adel seinem Vorhandensein nach überhaupt deutlich bekannt. Deshalb sind auch die Ausgrabungen zwar für die antiken Landkulte wesentlich, aber von jener Frühreligion lehren sie nichts, so wenig wir aus einer Dorfkapelle über Abaelard und Bonaventura lernen können.
    Aber Aischylos und Pindar standen allerdings im Banne einer großen priesterlichen Tradition, vor ihnen die Pythagoräer, die den Demeterkult in die Mitte stellten und damit verrieten, wo der Kern jener Mythologie zu suchen ist, noch früher die Mysterien von Eleusis und die orphische Reformation des 7. Jahrhunderts und endlich die Fragmente des Pherekydes und Epimenides, der
letzten – nicht der ersten!
– Dogmatiker einer uralten Theologie. Hesiod und Solon kennen die Idee des Erbfrevels, der an Kindern und Kindeskindern gerächt wird, und die ebenfalls apollinische Lehre von der Hybris. Plato aber schildert als Orphiker und Gegner einer homerischen Lebensauffassung im Phaidon sehr alte Lehren von der Hölle und vom Totengericht. Wir kennen die erschütternde Formel der Orphik, das Nein der Mysterien gegenüber dem Ja der Agone, das ganz ohne Zweifel schon um 1100 entstanden ist, und zwar als Protest des Wachseins gegen das Dasein:
soma sema
– dieser blühende antike Leib ein Grab! Hier
fühlt
er sich nicht mehr in Zucht, Kraft und Bewegung; er
erkennt sich
und er erschrickt vor dem, was er begreift. Hier beginnt die antike Askese, die durch strengste Riten und Sühnungen, selbst durch den freiwilligen Tod die Befreiung von diesem euklidischen Körperdasein sucht. Man versteht die vorsokratischen Philosophen gründlich falsch, wenn sie gegen Homer reden: sie taten das nicht als Aufklärer, sondern als Asketen, weil sie, die »Zeitgenossen« des Descartes und Leibniz, in der strengen Überlieferung der großen alten orphischen Religion herangewachsen waren, die in diesen halbklösterlichen Denkerschulen im Schatten altberühmter Heiligtümer ebenso treu bewahrt worden ist wie die gotische Scholastik an den ganz geistlichen Universitäten des Barock. Vom Selbstmord des Empedokles führt der Weg vorwärts zu dem der römischen Stoiker und rückwärts zu »Orpheus«.
    Aus diesen letzten Spuren erhebt sich nun doch ein leuchtender Umriß der antiken Frühreligion. Wie alle gotische Inbrunst sich auf die Himmelskönigin Maria richtete, die Jungfrau und Mutter, so entstand damals ein Kranz von Mythen, Bildern und Gestalten um Demeter, die Gebärende, um Gaia und Persephone, und um Dionysos, den Zeugenden: chthonische und phallische Kulte und Feste und Mysterien von Geburt und Sterben. Auch das war antik und leibhaft-gegenwärtig gedacht. Die apollinische Religion betete den Leib an, die orphische verwarf ihn, die der Demeter feierte die Augenblicke seiner Entstehung: Zeugung und Geburt. Es gab eine das Geheimnis des Lebens scheu verehrende Mystik in Lehren, Symbolen und Spielen, aber gleich daneben den Orgiasmus, denn die Vergeudung des Leibes ist der Askese ebenso tief verwandt wie die heilige Prostitution dem Zölibat; sie verneinen beide die Zeit. Es ist die Umkehrung des apollinischen »Zurück« vor der Hybris. Der Abstand wird nicht geachtet, sondern aufgehoben. Wer das in sich erlebt hat, ist »aus einem Sterblichen ein Gott geworden«. Es muß damals große Heilige und Seher gegeben haben, die über die Gestalten des Heraklit und Empedokles ebensoweit hinausragten wie diese über die kynischen und stoischen Wanderredner. Dergleichen geschieht nicht ohne Name und Person. Es gab, als überall die Sänge von Achilles und Odysseus erschollen, eine große, strenge Lehre an den berühmten Kultstätten, eine Mystik und Scholastik mit ausgebildetem Schulwesen und mündlicher Geheimtradition wie in Indien. Aber alles das ist versunken und die Trümmer der Spätzeit beweisen kaum noch, daß es einmal da war.
    Läßt man die Ritterpoesie und die Volkskulte ganz beiseite, so ist es heute noch möglich, von dieser – der – antiken Religion etwas mehr festzustellen. Aber dann muß auch der dritte Fehler vermieden werden: die Gegenüberstellung von »römischer« und »griechischer« Religion. Einen

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