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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Kühen, Mut in den Geiern – weshalb im Götterbilde der menschengestaltige Ka sich hinter dem Tierkopf gleichsam versteckt – und das älteste Weltbild zu einer Ausgeburt der entsetzlichsten Angst machen; die Mächte wüten gegen den Menschen selbst nach dem Tode und können nur durch die schwersten Opfer besänftigt werden. Die Einigung des Nord- und Südlandes ist damals durch die gemeinsame Verehrung des Horusfalken dargestellt worden, dessen erster Ka im regierenden Pharao anwesend ist. Vgl. Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. I, § 182 ff.] Es sind nicht die Götter der Krieger oben im Megaron der mykenischen Burgen, wo der Seelen- und Ahnenkult eine großartige, noch heute in den Gräbern bezeugte Pflege findet, sondern die dort unten, in den Hütten der Bauern geglaubten Mächte. Die großen menschenartigen Götter der apollinischen Religion, die um 1100 durch eine gewaltige religiöse Erschütterung entstanden sein müssen, tragen allenthalben noch Züge ihrer dunklen Vergangenheit. Es gibt unter diesen Gestalten kaum eine, die nicht durch Beinamen, Attribute oder verräterische Verwandlungsmythen jenen Ursprung verriete. Hera ist für Homer beständig die kuhäugige; Zeus erscheint als Stier und der Poseidon der thelpusischen Legende als Roß. Apollon wird der Name für zahllose primitive Numina; er war einmal Wolf (Lykeios) wie der römische Mars, Widder (Karneios), Delphin (Delphinios), Schlange (der pythische Apollon von Delphi). Als Schlange erscheinen Zeus Meilichios auf attischen Grabreliefs, Asklepios, die Erinnyen noch bei Aischylos (Eum. 126). Die auf der Akropolis gehaltene heilige Schlange wurde als Erichthonios gedeutet. In Arkadien sah Pausanias noch das pferdeköpfige Demeterbild im Tempel von Phigalia; die arkadische Artemis-Kallisto erscheint als Bärin, aber auch die Priesterinnen der brauronischen Artemis in Athen hießen
arktoi
. Dionysos, bald Stier bald Bock, und Pan haben immer etwas Tierisches behalten. Psyche ist wie die ägyptische Körperseele (bai) der Seelenvogel, und damit beginnen die zahllosen halbtierischen Gebilde, wie die Sirenen und Kentauren, die das frühantike Naturbild ganz und gar erfüllen.
    Aber mit welchen Zügen deutet die primitive Religion der
Merowingerzeit
den gewaltigen Aufschwung der Gotik voraus? Daß es scheinbar dieselbe Religion ist, »das« Christentum, beweist nichts gegen den völligen Unterschied in der Tiefe. Denn wir müssen uns darüber klar sein, daß der primitive Charakter einer Religion nicht eigentlich in ihrem Bestande an Lehren und Bräuchen liegt, sondern im Seelentum der Menschen, die sie sich aneignen, die mit ihnen fühlen, sprechen und denken. Der Forscher muß sich mit der Tatsache vertraut machen, daß das magische Christentum, und zwar das der Westkirche, zweimal das Ausdrucksmittel einer primitiven Frömmigkeit geworden ist und damit selbst eine primitive Religion, nämlich 500–900 im keltisch-germanischen Abendland und heute noch im Russentum. Aber wie hat sich die Welt in diesen »bekehrten« Köpfen gespiegelt? Was hat man sich – einige Kleriker von byzantinischer Schulung etwa ausgenommen – bei diesen Zeremonien und Dogmen wirklich gedacht und vorgestellt? Der Bischof Gregor von Tours, der doch immerhin den höchsten geistigen Stand seiner Generation anzeigt, preist einmal das abgeschabte Pulver vom Grabstein eines Heiligen: »O himmlisches Abführmittel, das alle ärztlichen Rezepte übertrifft – das den Unterleib reinigt wie Skammoniensaft – und alle Flecken vom Gewissen abwäscht!« Es ist nicht der Tod Jesu, der ihn als bloßes Verbrechen mit Zorn erfüllt, sondern seine Auferstehung, die ihm dunkel wie eine athletische Kraftleistung vorschwebt, was den Messias als großen Zauberer und damit als wahren Heiland legitimiert. Daß die Leidensgeschichte einen mystischen Sinn hat, ahnt er gar nicht. [Bernoulli, Die Heiligen der Merowinger (1900), eine gute Schilderung dieser primitiven Religion.]
    In Rußland sind die Beschlüsse der »Hundertkapitelsynode« von 1551 ein Zeugnis allerprimitivster Gläubigkeit. Das Bartscheren und das falsche Anfassen des Kreuzes erscheinen hier als Todsünde. Die Dämonen werden dadurch beleidigt. Die »Synode des Antichrist« von 1667 hat zu der ungeheuren Sektenbewegung des Raskol geführt, weil das Kreuz fortan mit drei statt mit zwei Fingern geschlagen und der Name Jesu Jissus statt Issus gesprochen werden sollte, wodurch für die Strenggläubigen die Kraft dieser Zaubermittel über die

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