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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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bedeutete damals den gotischen Aufschwung von 1000 an, [Burdach »Reformation, Renaissance, Humanismus« (1918).] das neue
faustische
Weltgefühl, das neue Selbsterlebnis des Ich im
Unendlichen
. Mochten einige Geister gelegentlich für die Antike schwärmen, wie man sie sich dachte; das war ein Geschmack, nicht mehr. Der antike Mythos war ein Unterhaltungsstoff, ein allegorisches Spiel; durch seinen dünnen Schleier hindurch sah man den wirklichen, den gotischen, nicht minder scharf. Als Savonarola auftrat, verschwand das antike Getändel sofort von der Oberfläche des florentinischen Lebens. Sie haben alle für die Kirche geschaffen und zwar mit Überzeugung; Raffael war der innigste aller Madonnenmaler; ein fester Glaube an das Teufelswesen und an die Erlösung von ihm durch die Heiligen liegt dieser ganzen Kunst und Schriftstellerei zugrunde, und alle ohne Ausnahme, Maler, Architekten, Humanisten, mochten sie die Namen Cicero, Virgil, Venus, Apollo täglich im Munde führen, haben die Hexenbrände allenthalben als etwas ganz Natürliches betrachtet und Amulette gegen den Teufel getragen. Die Schriften des Marsilius Ficinus sind voll von gelehrten Betrachtungen über Teufel und Hexen, Francesco della Mirandola hat in elegantem Latein den Dialog »Die Hexe« geschrieben, um die feinen Köpfe seines Kreises vor der Gefahr zu warnen. [Bezold, Hist. Zeitschr. 45, S. 208.] Als Lionardo an der Heiligen Anna Selbdritt arbeitete, auf der Höhe der Renaissance, wurde in Rom in bestem Humanistenlatein der Hexenhammer geschrieben (1487). Der große Mythos der Renaissance war
dieser
, und ohne ihn versteht man die prachtvolle, echt gotische Stärke dieser antigotischen Bewegung nicht. Menschen, die den Teufel nicht um sich spürten, hätten weder die Göttliche Komödie noch die Fresken in Orvieto noch die Decke der Sixtina schaffen können.
    Erst auf dem gewaltigen Hintergrunde dieses Mythos erwuchs der faustischen Seele ein Gefühl von dem, was sie war. Ein Ich im Unendlichen verloren; ganz und gar Kraft, aber in einer Unendlichkeit größerer Kräfte ohnmächtig; ganz und gar Wille, aber voller Angst für seine Freiheit. Das Problem der Willensfreiheit ist nie tiefer, nie qualvoller durchdacht worden. Andere Kulturen haben es gar nicht gekannt. Aber eben weil die magische Ergebung hier ganz unmöglich war, weil es kein »es« war, kein Teil eines allgemeinen Geistes, der dachte, sondern ein einzelnes, kämpfendes Ich, das sich zu behaupten suchte, wurde jede Grenze der Freiheit als eine Kette empfunden, die man durch das Leben schleppte, und dieses selbst als ein lebendiger Tod. Wenn es aber so war – warum?
wofür
?
    Aus dieser Einsicht erhob sich ein ungeheures Schuldbewußtsein, das wie eine einzige verzweifelte Klage durch diese Jahrhunderte geht. Die Dome richten sich immer bittender zum Himmel auf, die gotischen Gewölbe werden wie ein Händefalten; kaum schimmert aus hohen Fenstern ein tröstliches Licht in die Nacht der langen Kirchenschiffe. Die atembeklemmenden Parallelfolgen des Kirchengesangs, die lateinischen Hymnen sprechen von wundgescheuerten Knien und von Geißelhieben in nächtlicher Zelle. Für den magischen Menschen war die Welthöhle eng und der Himmel nah gewesen; hier war er unendlich fern; keine Hand schien aus diesen Räumen herabzureichen, und um das verlorene Ich lagerte sich höhnend die Teufelswelt. Deshalb wurde es die große Sehnsucht der Mystik, entbildet zu werden von der Kreatur, wie Heinrich Seuse sagte, sein selbst und aller Dinge ledig zu werden (Meister Eckart), das Lassen der Ichheit (Theologie-deutsch). Daneben erhob sich ein endloses Grübeln und Sichhalten an Begriffe, die immer feiner und feiner zerspalten wurden, um das Warum zu erfahren, und endlich der allgemeine Schrei nach Gnade, nicht der magischen, die als Substanz herabkam, sondern der faustischen, die den Willen losband.
    Frei wollen zu dürfen
ist im tiefsten Grunde das einzige Geschenk, das die faustische Seele vom Himmel erfleht. Die sieben Sakramente der Gotik, von Petrus Lombardus als Einheit empfunden, 1215 auf dem Lateranskonzil zum Dogma erhoben, von Thomas von Aquino mystisch begründet, haben nur diesen Sinn. Sie begleiten die einzelne Seele von der Geburt bis zum Tode und schirmen sie vor den teuflischen Mächten, die sich in den Willen einzunisten suchen. Denn sich dem Teufel verschreiben, heißt ihm
seinen Willen
ausliefern. Die streitende Kirche auf Erden ist die sichtbare Gemeinschaft derer, die durch den

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