Der Untergang des Abendlandes
der wirkenden Kraft. Das Werden erscheint in der ungezwungenen Wechselwirkung zweier Prinzipien, des
yang
und
yin
, die eher periodisch als polar gedacht sind. Dementsprechend gibt es zwei Seelen im Menschen: die
kwei
entspricht dem
yin
, dem Irdischen, Dunklen, Kalten; sie verwest mit dem Leibe; die
sen
ist die höhere, lichte und bleibende. [Diese Vorstellung ist wesentlich verschieden von der ägyptischen Zweiheit des geistigen
ka
und des Seelenvogels
bai
und noch viel mehr von den beiden magischen Seelensubstanzen.] Aber von beiden Seelenarten gibt es außerhalb des Menschen noch unzählige Mengen. Geisterscharen erfüllen Luft, Wasser und Erde; alles ist von
kweis
und
sens
bevölkert und bewegt. Das Leben der Natur und das menschliche Leben bestehen ganz eigentlich aus dem Spiel solcher Einheiten. Klugheit, Glück, Kraft und Tugend hängen von ihrem Verhältnis ab. Askese und Orgiasmus, die Rittersitte des
hiao
, die dem Vornehmen befiehlt, den Frevel an einem Ahnen noch nach Jahrhunderten an den Nachkommen zu rächen und eine Niederlage nicht zu überleben, [O. Franke, Studien zur Gesch. des Konfuzianischen Dogmas (1920), S. 202.] und die vernunftgemäße Moral des
jen
, die nach dem Urteil des Rationalismus aus dem Wissen folgt, gehen sämtlich aus der Vorstellung von den Kräften und Möglichkeiten der
kwei
und
sen
hervor.
Alles das wird in dem Urwort
tao
zusammengefaßt. Der Kampf zwischen dem
yang
und
yin
im Menschen ist das
tao
seines Lebens; das Weben der Geisterscharen draußen ist das
tao
der Natur. Die Welt besitzt
tao
, insofern sie Takt, Rhythmus und Periodizität hat. Sie besitzt
li
, Spannung, insofern man sie erkennt und fertige Verhältnisse zur ferneren Anwendung daraus abzieht. Zeit, Schicksal, Richtung, Rasse, Geschichte, alles das mit dem großen Weltblick der ersten Dschouzeit angeschaut, liegt in diesem einen Wort. Der Weg des Pharao durch den dunklen Gang zu seinem Heiligtum ist ihm verwandt, das faustische Pathos der dritten Dimension ist es auch: aber
tao
ist doch von dem Gedanken der technischen Überwindung der Natur weit entfernt. Der chinesische Park vermeidet die energische Perspektive. Er legt Horizont hinter Horizont und lädt zum Wandeln ein, statt auf ein Ziel zu weisen. Der chinesische »Dom« der Frühzeit, das Pi-yung, hat mit seinen Pfaden, die durch Tore, Gebüsche, über Treppen, geschwungene Brücken und Plätze führen, niemals den unerbittlichen Zug Ägyptens und den Tiefendrang der Gotik.
Als Alexander am Indus erschien, war die Frömmigkeit dieser drei Kulturen längst in die geschichtslosen Formen eines breiten Taoismus, Buddhismus und Stoizismus zerflossen. Aber wenig später erhebt sich dann die Gruppe der magischen Religionen im Gebiet zwischen der Antike und Indien, und etwa zur selben Zeit muß die Religionsgeschichte der Maya und Inka begonnen haben, die für uns hoffnungslos verloren ist. Ein Jahrtausend danach, als auch hier alles innerlich vollendet war, erscheint auf dem so wenig verheißenden Boden des Frankenreichs gänzlich überraschend und in steilem Aufstieg das germanisch-katholische Christentum. Es ist hier wie überall: Ob der ganze Schatz von Namen und Bräuchen aus dem Osten kam, ob tausend Einzelzüge aus uraltem germanischen und keltischen Fühlen stammen, die gotische Religion ist etwas so unerhört Neues, und in ihren letzten Tiefen allen nicht zugehörigen Menschen so vollkommen unbegreiflich, daß die Herstellung von Zusammenhängen an der geschichtlichen Oberfläche ein Spiel ohne alle Bedeutung bleibt.
Die mythische Welt, die sich nun rings um diese junge Seele aufbaut, ein Ganzes von Kraft, Wille und Richtung, unter dem Ursymbol des Unendlichen gesehen, ein riesenhaftes Wirken fernhin, Abgründe des Entsetzens und der Seligkeit, die sich plötzlich auftun –, das war den Auserwählten dieser frühen Religiosität etwas ganz Natürliches, so daß sie gar nicht den Abstand fanden, um es als Einheit zu »erkennen«. Sie lebten darin. Vor uns aber, die durch dreißig Generationen von den Ahnen getrennt sind, steht diese Welt so fremd und übermächtig da, daß wir immer nur einzelne Seiten zu begreifen suchen und damit das Ganze und Unteilbare mißverstehen.
Die väterliche Gottheit empfand man als die Kraft selbst, das ewige, große und allgegenwärtige Wirken, die heilige Kausalität, die für irdische Augen kaum eine greifbare Gestalt gewinnen konnte. Aber die ganze Sehnsucht der jungen Rasse, das ganze Verlangen dieses mächtig
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