Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
Vom Netzwerk:
Innerlichkeit. Das ist nichts weniger als »künstlerische« Phantasie. Jeder Mensch wußte die Welt bevölkert mit Scharen von Engeln und Teufeln. Die lichtumgebenen Engel des Fra Angelico und der frührheinischen Meister und die Fratzengesichter an den Portalen der großen Dome erfüllten wirklich die Luft. Man sah sie, man fühlte überall ihre Anwesenheit. Wir wissen heute gar nicht mehr, was ein Mythos ist, nämlich nicht ein ästhetisch bequemes Sichvorstellen, sondern ein Stück leibhaftigster Wirklichkeit, das ganze Wachsein durchwühlend und das Dasein bis ins Innerste erschütternd. Diese Wesen sind ringsumher beständig da. Man erblickte sie, ohne sie zu sehen. Man glaubte an sie mit dem Glauben, der den Gedanken an Beweise als Lästerung empfindet. Was wir heute Mythos nennen, unsere literaturgesättigte Schwärmerei für gotische Farbigkeit, ist nichts als Alexandrinismus. Damals »genoß« man ihn nicht; der Tod stand dahinter. [Es war in der Antike ganz ebenso. Die homerischen Gestalten waren für den hellenistisch Gebildeten nichts als Literatur, Vorstellung, künstlerisches Motiv und schon für die Zeit Platos nicht viel mehr. Aber um 1100 brach ein Mensch vor der furchtbaren Wirklichkeit der Demeter und des Dionysos zusammen.] Denn der Teufel bemächtigte sich der menschlichen Seele und verführte sie zu Ketzertum, Buhlschaft und Zauberei. Der Krieg gegen ihn wurde auf Erden mit Feuer und Schwert und zwar gegen die Menschen geführt, die sich ihm ergeben hatten. Es ist sehr bequem, das aus diesen Jahrhunderten fortzudenken, aber ohne diese furchtbare Wirklichkeit bleibt von der ganzen Gotik nichts als Romantik übrig. Mit den liebeglühenden Hymnen an Maria stieg der Qualm unzähliger Scheiterhaufen empor. Neben den Domen erhoben sich Galgen und Rad. Damals lebte jeder in dem Bewußtsein einer ungeheuren Gefahr, nicht vor dem Henker, sondern vor der Hölle. Ungezählte Tausende von Hexen waren überzeugt, es zu sein. Sie haben sich selbst angezeigt, um ihre Entsühnung gebeten, aus reinster Wahrheitsliebe ihre nächtlichen Fahrten und Teufelspakte gebeichtet. Inquisitoren haben unter Tränen, aus Mitleid mit den Gefallenen die Folter verhängt, um ihre Seele zu retten. Das ist der gotische Mythos, aus dem die Kreuzzüge, die Dome, die innigste Malerei und die Mystik hervorgegangen sind. In seinem Schatten erblühte jenes gotische Glücksgefühl, dessen Tiefe wir uns nicht einmal mehr vorstellen können.
    Der Karolingerzeit war das alles noch fremd. Karl der Große hat im ersten sächsischen Kapitular (787) den urgermanischen Glauben an Werwölfe und Nachtfahrende (
strigae
) unter Strafe gestellt, und noch um 1020 wird er als Irrglaube im Dekret des Burkard von Worms verdammt, das aber nur noch in abgeschwächter Gestalt um 1140 in das
decretum Gratiani
[Vgl. Bd. II, S. 647.] überging. Cäsarius von Heisterbach war bereits mit der ganzen Teufelslegende vertraut; in der
Legenda Aurea
ist sie ebenso wirklich und wirksam wie die Marienlegende. 1233, als man die Dome von Mainz und Speyer einwölbte, erschien die Bulle
Vox in Rama
, durch welche der Teufels- und Hexenglaube kanonisch geworden ist. Es war nicht lange nach dem »Sonnengesang« des heiligen Franz, und während die Franziskaner im inbrünstigen Gebet vor Maria knieten und ihren Kult ausbreiteten, rüsteten die Dominikaner sich zum Kampf gegen den Teufel durch die Inquisition. Gerade weil in der einen Gestalt die himmlische Liebe ihren Mittelpunkt gefunden hatte, wurde die irdische dem Teufel verwandt. Das Weib ist die Sünde – so empfanden es die großen Asketen, wie sie es in der Antike, in China und Indien empfunden hatten. Der Teufel herrscht nur durch das Weib; die Hexe ist die Verbreiterin der Todsünden. Thomas von Aquino hat die unheimliche Lehre vom Incubus und Succubus entwickelt. Innige Mystiker wie Bonaventura, Albertus Magnus, Duns Scotus haben die Metaphysik des Teuflischen vollkommen ausgebildet.
    Die Renaissance hat den starken Glauben der Gotik zur beständigen Voraussetzung des Weltgefühls. Wenn Vasari von Cimabue und Giotto rühmt, daß sie zuerst wieder der Natur als Lehrmeisterin folgten, so war es eben diese gotische Natur, die von englischen und teuflischen Scharen rings durchgeistert war und wie eine ewige Drohung im Lichte dalag. Nachahmung der Natur war die Nachahmung ihrer Seele, nicht ihrer Oberfläche. Man lasse doch endlich das Märchen von einer Erneuerung des »Altertums« fallen. Renaissance,
rinascita
,

Weitere Kostenlose Bücher