Der Untergang des Abendlandes
strömenden Blutes, sich in Demut vor dem
Sinn des Blutes
zu beugen, fand ihren Ausdruck in der Gestalt der Jungfrau und Mutter Maria, deren Krönung im Himmel eins der frühesten Motive gotischer Kunst geworden ist, eine Lichtgestalt in Weiß, Blau und Gold inmitten der himmlischen Heerscharen. Sie beugt sich über das neugeborne Kind; sie fühlt das Schwert im Herzen; sie steht zu Füßen des Kreuzes und hält den Leichnam des toten Sohnes. Seit der Jahrtausendwende haben Petrus Damiani und Bernhard von Clairvaux ihren Kult ausgebildet; das Ave Maria und der englische Gruß entstanden und später bei den Dominikanern der Rosenkranz. Zahllose Legenden umgaben sie und ihre Gestalt. Sie hütet den Gnadenschatz der Kirche, sie ist die große Fürbitterin. Im Kreise der Franziskaner entstand das Fest ihrer Heimsuchung, bei den englischen Benediktinern noch vor 1100 das der unbefleckten Empfängnis, das sie ganz aus der sterblichen Menschheit in die Lichtwelt emporhob.
Aber diese Welt der Reinheit, des Lichts und der geistigen Schönheit wäre undenkbar gewesen ohne das Gegenbild, das davon nicht zu trennen ist und zu den Höhepunkten der Gotik gehört, eine ihrer unergründlichsten Schöpfungen, die man heute stets vergißt – vergessen
will
. Während sie dort oben thront, lächelnd in ihrer Schönheit und Milde, liegt eine andere Welt im Hintergrunde: überall in der Natur und in der Menschheit webt es, brütet Unheil, bohrt, zerstört, verführt: das Reich des Teufels. Es durchdringt die ganze Schöpfung; es liegt überall auf der Lauer. Ein Heer von Kobolden, Nachtfahrenden, Hexen, Werwölfen ist ringsum da, und zwar in menschlicher Gestalt. Niemand weiß von dem Nächsten, ob er sich nicht den Unholden verschrieben hat. Niemand weiß von einem kaum erblühten Kinde, ob es nicht schon eine Teufelsbuhle ist. Eine entsetzliche Angst, wie vielleicht nur noch in ägyptischer Frühzeit, lastet auf den Menschen, die jeden Augenblick in den Abgrund stürzen können. Es gab eine schwarze Magie, Teufelsmessen und Hexensabatte, nächtliche Feste auf Berghöhen, Zaubertränke und Besprechungen. Der Höllenfürst mit seinen Verwandten – Mutter und Großmutter, denn da er das Sakrament der Ehe durch sein Dasein verhöhnt, darf er Weib und Kind nicht haben –, mit den gefallenen Engeln und unheimlichen Gesellen ist eine der großartigsten Schöpfungen der gesamten Religionsgeschichte, im germanischen Loki kaum vorgedeutet. Ihre grotesken Gestalten mit Hörnern, Klauen und Pferdehuf waren in den Mysterienspielen des 11. Jahrhunderts schon ganz ausgebildet, erfüllen allenthalben die künstlerische Phantasie und sind aus der gotischen Malerei bis auf Dürer und Grünewald nicht wegzudenken. Der Teufel ist schlau, bösartig, schadenfroh und wird doch von den Mächten des Lichtes zuletzt geprellt. Er und seine Brut sind launig, tolpatschig, erfinderisch und von ungeheuerlicher Phantastik, die Verkörperung des Höllengelächters gegenüber dem verklärten Lächeln der Himmelskönigin, aber auch des faustischen Welthumors gegenüber dem Jammer zerknirschter Sünder.
Man kann sich die Wucht und Eindringlichkeit dieses Bildes nicht groß, den Glauben daran nicht tief genug denken. Marienmythos und Teufelsmythos haben sich zusammen ausgebildet und keiner ist ohne den andern möglich. Der Unglaube an beide ist Todsünde. Es gibt einen Marienkult der Gebete und einen Teufelskult der Beschwörungen und Exorzismen. Der Mensch wandelt beständig über einem Abgrund, der unter dünner Decke liegt. Das Leben in dieser Welt ist ein beständiger verzweifelter Kampf mit dem Teufel, in dem jeder einzelne als Glied der streitenden Kirche dreinschlagen, sich wehren, sich als Ritter erproben muß. Von droben schaut die triumphierende Kirche der Engel und Heiligen in ihrer Glorie zu. In diesem Ringen wirkt die himmlische Gnade wie ein Schild. Maria ist die Beschützerin, in deren Schoß man flüchten kann, und die Richterin, die den Kampfpreis erteilt. Beide Welten haben ihre Legende, ihre Kunst, ihre Scholastik und Mystik. Auch der Teufel kann Wunder tun. Was in keiner andern Frühreligion erscheint, ist die sinnbildliche Farbe. Zur Madonna gehören das Weiß und Blau, zum Teufel das Schwarz, Schwefelgelb und Rot. Die Heiligen und Engel schweben im Äther, aber die Teufel springen und hinken und die Hexen sausen durch die Nacht. Erst beide zusammen, Licht und Nacht, Liebe und Angst, füllen die gotische Kunst mit ihrer unbeschreiblichen
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