Der Untergang des Abendlandes
anspruchsvoller Weise »in Form« ist, als Gruppe von Klassen oder Ständen und ohne Zweifel künstlicher und vergänglicher. Aber die Geschichte dieser Klassen und Stände ist
Weltgeschichte in höchster
Potenz
. Erst im Hinblick auf sie erscheint das Bauerntum als geschichtslos. Die gesamte Geschichte großen Stils von sechs Jahrtausenden hat sich in den Lebensläufen der hohen Kulturen vollzogen, nur weil diese Kulturen selbst ihren schöpferischen Mittelpunkt
in Ständen
haben, die Zucht besitzen, in Vollendung gezüchtet worden sind. Eine Kultur ist Seelentum, das in sinnbildlichen Formen zum Ausdruck gelangt, aber diese Formen sind lebendig und in Entwicklung begriffen, auch die der Kunst, deren wir uns erst durch ihre Abziehung von der Kunst
geschichte
bewußt geworden sind; sie liegen im gesteigerten Dasein von Einzelnen und Kreisen, eben in dem, was soeben »Dasein in Form« genannt worden ist und durch diese Höhe des Geformtseins erst die Kultur repräsentiert.
Das ist etwas Großes und Einziges innerhalb der organischen Welt. Es ist der einzige Punkt, wo der Mensch sich über die Mächte der Natur erhebt und selbst Schöpfer wird. Noch als Rasse ist er Schöpfung der Natur; da
wird
er gezüchtet; als Stand aber züchtet er sich selbst, ganz wie die edlen Tier- und Pflanzenrassen, mit denen er sich umgeben hat; und eben das ist im höchsten und letzten Sinne Kultur. Kultur und Klasse sind Wechselbegriffe; sie entstehen als Einheit, sie vergehen als Einheit. Die Züchtung erlesener Wein-, Obst- und Blumenarten, die Züchtung von Pferden reinen Blutes
ist
Kultur, und in genau demselben Sinne entsteht erlesene menschliche Kultur als Ausdruck eines Daseins, das sich selbst in große Form gebracht hat.
Aber eben deshalb gibt es in jeder Kultur ein starkes Gefühl dafür, ob jemand dazu gehört oder nicht. Der antike Begriff des Barbaren, der arabische des Ungläubigen – des Amhaarez oder Giaur –, der indische des Tschudra mögen noch so verschieden gedacht sein, sie drücken zunächst weder Haß noch Verachtung aus, sondern stellen eine Verschiedenheit im Takt des Daseins fest, die eine unüberschreitbare Grenze in allen tiefen Dingen zieht. Diese ganz klare und eindeutige Tatsache ist durch den indischen Begriff der »vierten Kaste« verdunkelt worden, die es in Wirklichkeit, wie wir heute wissen, nie gegeben hat . [R. Fick, Die soziale Gliederung im nordöstlichen Indien zu Buddhas Zeit (1897), S. 201. K. Hillebrandt, Alt-Indien (1899), S. 82.] Das Gesetzbuch des Manu mit seinen berühmten Bestimmungen über die Behandlung des Tschudra entstammt dem ausgebildeten Fellachentum Indiens und zeichnet ohne Rücksicht auf die rechtlich vorhandene oder auch nur erreichbare Wirklichkeit das dünkelhafte Brahmanenideal durch seinen Gegensatz, wie es mit dem Begriff des arbeitenden Banausen in der spätantiken Philosophie nicht viel anders gewesen ist. Das hat für uns dort zum Mißverstehen der Kaste als einer spezifisch indischen Erscheinung, hier zu einer grundfalschen Meinung von der Stellung des antiken Menschen zur Arbeit geführt.
Es handelt sich in allen Fällen um den
Rest
, der für das innere Leben der Kultur und ihre Symbolik nicht in Betracht kommt und von dem bei jeder bedeutungsvollen Einteilung von vornherein abgesehen wird, etwa das, was man heute in Ostasien
outcast
nennt. In dem gotischen Begriff des
corpus christianum
ist ausgesprochen, daß der jüdische Konsensus
nicht
dazu gehört. Innerhalb der arabischen Kultur ist im Bereiche der jüdischen, persischen, christlichen und vor allem islamischen Nation der Andersgläubige nur geduldet und im übrigen mit Verachtung seiner eigenen Verwaltung und Rechtsprechung überlassen. In der Antike sind »
outcast
« nicht nur Barbaren, sondern in gewissem Sinne auch die Sklaven, vor allem aber Reste der Urbevölkerung wie die Penesten in Thessalien und die Heloten in Sparta, deren Behandlung durch ihre Herren wieder an die Haltung der Normannen im angelsächsischen England und der Ordensritter im slawischen Osten erinnert. Im Gesetzbuch des Manu erscheinen als Namen von Tschudraklassen alte Völkernamen des »Kolonialgebiets« am unteren Ganges, darunter Magadha – danach könnte Buddha so gut wie der Cäsar Asoka, dessen Großvater Tschandragupta von niedrigster Herkunft war, ein Tschudra gewesen sein – andre sind Namen von Berufen und das erinnert daran, daß auch im Abendland und anderswo gewisse Berufe
outcast
waren, so die Bettler – bei Homer
Weitere Kostenlose Bücher