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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Rechtsschulen der Sabinianer und Proculianer. Arabisch ist auch in der Wissenschaft das heilige Buch, der Kanon wie der naturwissenschaftliche des Ptolemäos (Almagest), der medizinische des Ibn Sina, das philosophische Korpus des »Aristoteles« mit vielen unechten Stücken, und dazu wieder meist ungeschriebene Zitiergesetze und -methoden, [Vgl. Bd. II, S. 861.] der Kommentar als Form des Gedankenfortschritts, die Hochschulen als Klosteranlagen (Medressen), welche den Lehrern und Hörern eine Zelle, Kost und Kleidung gewährten, und die gelehrten Richtungen als Bruderschaften. Die Gelehrtenwelt des Abendlandes besitzt durchaus die Gestalt der katholischen Kirche, besonders in den protestantischen Gebieten. Den Übergang von den gelehrten Orden der gotischen Zeit zu den ordensartigen Schulen des 19. Jahrhunderts, wie die Hegel-, Kant- und historische Rechtsschule, aber auch manche englischen Colleges, bilden die Mauriner und Bollandisten Frankreichs, die seit 1650 die historischen Hilfswissenschaften beherrscht und zum Teil begründet haben. Es gibt in allen Fachwissenschaften, Medizin und Kathederphilosophie einbegriffen, eine ausgebildete Hierarchie mit Schulpäpsten, Graden, Würden – der Doktor als die Priesterweihe –, Sakramenten und Konzilen. Der Laienbegriff wird schroff aufrecht erhalten und das allgemeine Priestertum der Gläubigen in Gestalt der populären Wissenschaft wie der darwinistischen leidenschaftlich bekämpft. Die Gelehrtensprache war ursprünglich das Latein; heute haben sich überall Fachsprachen ausgebildet, die z. B. auf dem Gebiete der Radioaktivität oder im Obligationenrecht nur noch dem verständlich sind, der die höheren Weihen empfangen hat. Es gibt Sektenstifter wie manche Jünger Kants und Hegels, eine Mission unter Ungläubigen wie die der Monisten, Ketzer wie Schopenhauer und Nietzsche, den großen Bann und als Index eine Übereinkunft des Schweigens. Es gibt ewige Wahrheiten wie die Teilung der Rechtsobjekte in Personen und Sachen, und Dogmen wie das von Energie und Masse und die Vererbungstheorie, einen Ritus des Zitierens rechtgläubiger Schriften und eine Art von wissenschaftlicher Seligsprechung . [Nach dem Tode sind die Irrlehrer ausgeschlossen von der ewigen Seligkeit des Lehrbuchs und in das Fegefeuer der Anmerkungen verwiesen, von wannen sie auf die Fürbitte der Gläubigen geläutert aufsteigen in das Paradies der Paragraphen.]
    Dazu kommt, daß der Typus des abendländischen Gelehrten, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte – gleichzeitig mit dem Tiefpunkt des Priestertypus –, auch die Gelehrtenstube als Zelle eines profanen Mönchtums und die unbewußten Gelübde dieses Mönchtums zu hoher Vollendung gebracht hat: Armut in Gestalt einer ehrlichen Geringschätzung von Wohlleben und Besitz, in Verbindung mit der ungeheuchelten Verachtung des kaufmännischen Berufes und jeder Verwertung wissenschaftlicher Ergebnisse zum Gelderwerb, Keuschheit bis zur Entwicklung eines Gelehrtenzölibats, dessen Vorbild und Gipfel Kant ist, Gehorsam bis zur Aufopferung für den Standpunkt der Schule. Dazu kommt endlich eine Art von Weltfremdheit, welche der profane Nachhall der gotischen Weltflucht ist und zur Geringschätzung fast des gesamten öffentlichen Lebens und aller Formen der guten Gesellschaft geführt hat: wenig Zucht und viel zuviel Bildung. Was für den Adel auch noch in seinen späten Verzweigungen, für den Richter, Gutsbesitzer und Offizier die naturwüchsige Freude an der Fortdauer des Stammes, an Besitz und Ehre ist, das scheint ihm gering gegenüber dem Besitz eines reinen Gelehrtengewissens und der Fortdauer einer Methode oder Einsicht fern von allen Händeln der Welt. Daß der Gelehrte heute aufgehört hat, weltfremd zu sein, und die Wissenschaft oft mit großem Verständnis in den Dienst der Technik und des Geldverdienens stellt, ist ein Zeichen dafür, daß der reine Typus im Abstieg begriffen ist, und daß also die große Zeit des Verstandesoptimismus, dessen lebendiger Ausdruck er ist, bereits der Vergangenheit angehört.
    Aus alledem ergibt sich ein natürlicher Aufbau der Stände, der in seiner Entwicklung und Wirkung das Grundgerüst im Lebenslauf einer jeden Kultur bildet. Kein Entschluß hat ihn geschaffen und kann ihn abändern; Revolutionen ändern ihn nur, wenn sie Formen der Entwicklung und nicht Ergebnis eines privaten Willens sind: er kommt dem handelnden und denkenden Menschen in seiner letzten kosmischen Bedeutung gar

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