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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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tastenden Äußerung des eben erwachenden früharabischen Weltgefühls – begreifen und schätzen lernen. Ebenso archaisch, primitiv und suchend wirkt die Mathematik des Nicolas von Oresme, Bischofs von Lisieux (1323-1382), der zum erstenmal im Abendland eine freie Art von Koordinaten und sogar Potenzen mit gebrochenen Exponenten verwandte, die ein Zahlengefühl voraussetzen, unklar noch, aber doch unverkennbar, das gänzlich unantik, aber auch nicht arabisch ist. Man erinnere sich neben Diophant an frühchristliche Sarkophage der römischen Sammlungen und neben Oresme an gotische Gewandstatuen deutscher Dome, und man wird auch in den mathematischen Gedankengängen, die bei beiden die
gleiche
frühe Stufe des abstrakten Verstehens darstellen, etwas Verwandtes bemerken. Das stereometrische Grenzgefühl in der letzten Verfeinerung und Eleganz eines Archimedes, das eine weltstädtische Intelligenz voraussetzt, war längst verschwunden. Man war überall in der früharabischen Welt dumpf, sehnsüchtig, mystisch, nicht mehr attisch hell und frei gestimmt. Man war der erdgeborne Mensch einer frühen Landschaft, nicht Großstädter, wie Euklid und d'Alembert. [Alexandria hört im 2. Jahrhundert n. Chr. auf, Weltstadt zu sein, und wird eine aus der Zeit antiker Zivilisation stehengebliebene Häusermasse, in der eine primitiv fühlende, seelisch anders geartete Bevölkerung haust. Vgl. Bd. II, S. 678.] Man verstand die tiefen und komplizierten Gebilde des antiken Denkens nicht mehr und besaß verworrene, neue, deren klare städtisch-geistige Fassung noch lange nicht gefunden werden konnte. Dies ist der
gotische
Zustand aller jungen Kulturen, den die Antike selbst in ihrer frühdorischen Zeit durchschritten hatte, von welcher außer der Keramik des Dipylonstils nichts geblieben ist. Erst in Bagdad, im 9. und 10. Jahrhundert, sind die Konzeptionen der Frühzeit Diophants von reifen Meistern, die Plato und Gauß nicht nachstehen, durchgeführt und abgeschlossen worden.
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    Die entscheidende Tat des Descartes, dessen Geometrie 1637 erschien, bestand
nicht
in der Einführung einer neuen Methode oder Anschauung auf dem Gebiete der überlieferten Geometrie, wie dies immer wieder ausgesprochen wird, sondern in der endgültigen Konzeption einer
neuen Zahlenidee
, die sich in einer Ablösung der Geometrie von der optischen Handhabe der Konstruktion, von der gemessenen und meßbaren Strecke überhaupt aussprach. Damit war die Analysis des Unendlichen zur Tatsache geworden. Das starre, sogenannte kartesische Koordinatensystem, der ideale Repräsentant von meßbaren Größen in halbeuklidischem Sinne, das in der vorhergehenden Periode, bei Oresme z. B., die größte Bedeutung hat, wurde durch Descartes, wenn man in die Tiefe seiner Erwägungen dringt, nicht vollendet, sondern überwunden. Sein Zeitgenosse Fermat war dessen letzter klassischer Vertreter.
    An Stelle des sinnlichen Elements der konkreten Strecke und Fläche – dem spezifischen Ausdruck
antiken
Grenzgefühls – tritt das abstrakt-räumliche, mithin unantike Element des
Punktes
, der von nun an als Gruppe zugeordneter reiner Zahlen charakterisiert wird. Descartes hat den durch antike Texte und arabische Tradition überlieferten Begriff der Größe, der sinnlichen Dimension, zerstört und durch den veränderlichen Beziehungswert der Lagen im Raume ersetzt. Daß dies aber eine
Beseitigung der Geometrie überhaupt
war, die von nun an innerhalb der Zahlenwelt der Analysis nur noch ein durch antike Reminiszenzen verschleiertes Scheindasein führt, hat man übersehen. Das Wort Geometrie hat einen nicht fortzudeutenden apollinischen Sinn. Von Descartes an ist die vermeintlich »neuere Geometrie« entweder eine synthetische Tätigkeit, welche die
Lage von Punkten
in einem nicht mehr notwendig dreidimensionalen Raume (einer »Punktmannigfaltigkeit«) durch Zahlen, oder eine analytische, welche Zahlen durch die Lage von Punkten bestimmt. Strecken durch Lagen ersetzen, heißt aber, den Begriff der Ausdehnung rein räumlich, nicht mehr körperhaft fassen.
    Das klassische Beispiel für diese Zerstörung der als Erbschaft überkommenen optisch-endlichen Geometrie scheint mir die Umkehrung der Winkelfunktionen – welche in einem uns kaum erreichbaren Sinne »Zahlen« der indischen Mathematik gewesen waren – in zyklometrische Funktionen, und weiterhin deren Auflösung in Reihen zu sein, die im unendlichen Zahlenbereich der algebraischen Analysis auch die leiseste Erinnerung an

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